Von Ösi- und Ossi-Frauen
Am Ende der Aufklärung steht in Angelika Reitzers zweiteiligem Familienroman „Wir Erben“ die abgeklärte Frau: planlos, wunschlos, emotionslos. Ein Germanistentraum. Besprechung von Werner Schandor.
Angelika Reitzers „Wir Erben“ ist ein Fest für geübte Leser – angefangen beim Hauptschauplatz des Romans: einem Gartenbaubetrieb. Germanisten müssen dabei unweigerlich an Goethes „Wahlverwandtschaften“ denken, wo Baron Eduard gleich zu Beginn einen Obstbaum veredelt und den ganzen Roman hindurch am Anlegen eines Parks arbeitet – als Metapher für die Kultivierung des Menschen durch die Ideen der Aufklärung. Was ist daraus geworden? Angelika Reitzers Gartenbaubetrieb ist nicht mehr Hort der Aufklärung, sondern vielmehr Schauplatz der Abklärung. Im Zentrum steht die Alleinerzieherin Marianne, die den Betrieb von ihrer Großmutter vererbt bekommen hat. Die Familie: in alle Himmelsrichtungen verstreut, angefangen bei Mariannes globetrottender Mutter über die ebenfalls unsteten Tanten bis hin zu Mariannes Sohn Lukas. Die Handlung setzt ein, als Lukas von zu Hause auszieht, um in der Stadt zu studieren, und die Großmutter stirbt. Marianne bleibt allein am Lex-Hof genannten Familienanwesen in der niederösterreichischen Provinz zurück.
Familiäre Fliehkräfte
Die familiären Fliehkräfte lasten auf der Protagonistin. Zwar sind immer wieder irgendwelche Cousinen oder Tanten präsent, deren Namen man bald wieder vergisst, auch Familienfeste werden am Lex-Hof gefeiert, aber letztlich ist es Tristesse, die Mariannes Grundstimmung beherrscht, ohne dass sie es sich eingestehen würde. Was soll sie schon jammern – vor allem, wenn die beste Freundin an einem Gehirntumor leidet. Da ist das Altern als alleinstehende Frau noch die bessere Option.
Angelika Reitzer nimmt sich viel Zeit für die Schilderungen banaler Handlungen – etwa das „Tatort“-Schauen am Sonntagabend – und unspektakulärer Begegnungen. Kein Wunder, dass in Rezensionen zu „Wir Erben“ bereits Vergleiche mit Stifter gefallen sind. Abzüglich der angestaubten Stifter’schen Ausdrucksweise ist das OK, wenn man Reitzers nüchternen, beinahe ins Meditative gehenden Beschreibungsfluss berücksichtigt. Auch das freut natürlich das Germanistenherz, erbaut aber nur jene Leser, die mit erzählerischem Gleichmut etwas anzufangen wissen. In Summe gestaltet die Autorin aus diesen detailverliebten Beschreibungen das Puzzle eines abbröckelnden Sozialgefüges. Zurück bleibt ein zum Gefühlsausdruck unfähiger, trauriger Mensch.
Zweiter Teil: Plattenbau
Trist wie realsozialistischer Plattenbau ist dann die Stimmung, mit dem der zweite Teil des Buches beginnt. Schauplatz ist Ost-Deutschland, und im Zentrum steht Siri, die Tochter einer Familie, die im Sommer 1989 aus der DDR flieht, um ein halbes Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung wieder nach in Brandenburg zurückzukehren – in ihr von den ehemals besten Freunden ausgeräumtes Haus. Siri macht Abitur, arbeitet kurz in einem persischen Teppichladen, beginnt exzessiv zu zeichnen – jene Phantasievögel, die man am Buchcover von „Wir Erben“ sieht – und absolviert ein Studienjahr in der US-Provinz, von wo sie so planlos zurückkehrt, wie sie fortgegangen ist. Die Familie daheim hat es derweilen sanft zerrieben.
Siri und Marianne sind Wahlverwandte. Ihr Lebensgefühl lässt sich am besten auf den Nenner eines Fragesatzes bringen, der am Ende des Buches fällt, als sich die beiden Frauen kennengelernt haben: „Warteten sie auf etwas oder war alles schon vorbei?“ – Das ist vielleicht auch jener Satz, der die Mentalität von Ösis und Ossis eint und die aktuelle kulturelle Klammer für die beiden Protagonistinnen bildet. Das wahre Feuerwerk für Germanisten gibt es dann in den Schlusskapiteln, wo diverse Ausgaben der „Wahlverwandtschaften“ im Gartenbaubetrieb auftauchen und Goethes Wirken als Landschaftsplaner in Weimar ins Zentrum rückt. Das legt die Interpretation nahe, „Wir Erben“ verstehe sich als zeitgemäße feministische Interpretation der „Wahlverwandtschaften“. So oder so: Das Buch, das im Juni 2014 die ORF-Bestenliste anführte, ist – wie das große Vorbild – intensive, manchmal etwas langwierige, oft lohnende Lektüre nicht nur im germanistischen Seminar.
Angelika Reitzer: Wir Erben. Roman. Wien und Salzburg: Jung und Jung 2014. 344 Seiten
Die Rezension erschien am 5.7.2014 in der Wochenendbeilage „Extra“ der Wiener Zeitung.