Vergesst die Heldenreise!
Wer sich mit Storytelling beschäftigt, stößt früher oder später unweigerlich auf die „Heldenreise“ – ein Handlungsschema, das jede Geschichte in einen hollywoodtauglichen Blockbuster verwandeln kann, wenn man den Befürwortern dieses Konzepts glaubt.
„Vergessen Sie die Heldenreise!“, schreibt dagegen der britische Autor Will Storr. Ein paar der Geschichten, die nach dem Prinzip Heldenreise gebaut sind, seien wunderbar und als Kinofilme höchst erfolgreich. Aber zu viele der auf den Markt geworfenen Heldenreisen seien erzählerische Fließbandware: kalt, glatt und klinisch tot.
Die geheiligte Macke
In seinem Schreibratgeber „The Science of Storytelling“, der bis dato (2021) nur auf Englisch vorliegt, betont Will Storr stattdessen die Kraft menschlicher Charaktere und überzeugender Figurenzeichnung. Das Um und Auf von Geschichten seien hintergründige Figuren, die eine kleine persönliche Macke hätten, die ihnen oft selbst nicht bewusst ist. „The Sacred Flaw“ (etwa: „Die geheiligte Macke“) nennt Storr sein Erzählmodell, das die Figur als Handlungsträger in den Mittelpunkt rückt und von Beobachtungen der Psychologie und Erkenntnissen der Hirnforschung ausgeht.
Stimmige Wirklichkeitsbilder
Demnach richtet sich jeder von uns in seiner eigenen, für sich stimmigen Wirklichkeit ein. „Die Wirklichkeit“ aber ist nichts als ein Gedankenkonstrukt, mit dem man mehr oder weniger gut durchs Leben kommt – bis eines Tages ein Problem auftaucht, bei dem unser gewohnter Weg, mit der Welt fertigzuwerden, nicht mehr ans Ziel führt. Genau das ist der Wendepunkt, an dem eine Geschichte beginnt, schreibt Storr. Ihr dramatisches Moment besteht darin, zu erzählen, wie ein Charakter sein mängelbehaftetes Wirklichkeitsbild so an geänderte Bedingungen anpasst, dass er entweder mit den neuen Umständen zurechtkommt oder daran scheitert.
Was uns Gregor Samsa beweist
Was abstrakt klingt, nimmt rasch Konturen an, wenn man Storrs Modell auf eine der berühmtesten Erzählungen des 20. Jahrhunderts umlegt, nämlich Franz Kafkas „Verwandlung“. Wir lernen den Handelsreisenden Gregor Samsa kennen, als er eines Morgens in ein Insekt verwandelt erwacht – in einem Augenblick also, in dem sich sein Leben vollkommen ändert. Seine bisherigen Konzepte der Weltwahrnehmung und Problembewältigung sind total über den Haufen geworfen. Und es macht die Gnadenlosigkeit von Kafkas Geschichte aus, dass es aus der surrealen Situation kein Entrinnen gibt, so sehr wir als Leser auch darauf hoffen, dass die Tragödie vielleicht doch ein gutes Ende nimmt.
Ins Weltbild einsortiert
Nebenbei bemerkt: Kafkas „Verwandlung“ ist auch ein schönes Beispiel dafür, dass das Gehirn die aberwitzigsten Settings als gegeben hinnimmt, so lange es nur mit der Lösung eines Rätsels beschäftigt wird. Nie im echten Leben würden wir so eine Verwandlung hinnehmen. Aber in der Geschichte behandeln wir sie schon nach einer halben Seite wie eine unabänderliche Tatsache. Wir sind darauf trainiert, so Storr, unsere Umgebung nach Veränderungen abzusuchen und auftretende Vorkommnisse rasch wieder in unser angepasstes Weltbild einzusortieren. Dadurch können wir auch irritierende Momente in Geschichten nach einer kurzen Schrecksekunde mühelos akzeptieren.
Dramatisches Potenzial
Ein Weiteres, was uns als Menschen antreibt, ist Will Storr zufolge unser Status in der Gruppe: Wir wollen mit anderen Menschen auskommen; aber wir wollen uns auch von den anderen abheben. Und in dieser Tatsache liegt noch einmal dramatisches Potenzial für die Entwicklung einer Story: Indem nämlich das Vorhaben, gemocht zu werden bzw. die gesellschaftliche Leiter hochzuklettern, nicht aufgeht. Das ist die Reibefläche, an der sich packende Geschichten entzünden können.
In den Charakter finden
Storr unterfüttert seine Anleitung zur Entwicklung von fiktionalen Geschichte mit vielen Beispielen aus Literatur und Film und zahlreichen Verweisen auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Dadurch gewinnt sein „Sacred Flaw“-Modell an Plausibilität. Als allein seligmachende Methode des Geschichtenerzählens will der Autor seine Anleitung nicht verstanden wissen, auch wenn er sehr von seinem Ansatz überzeugt ist. Man kann die Tipps und Anregungen in Storrs „Science of Storytelling“ vielmehr als Handreichung betrachten, um in einen Charakter hineinzufinden und aus der Figur heraus eine Geschichte zu entfalten.
Was fehlt: der Geist der Sprache
Wer die Empfehlungen von Will Storr beim literarischen Schreiben befolgt, kann zu gut gemachten Geschichten kommen – mit Betonung auf „gemachten“. Es können auch interessante Skripts und Drehbücher dabei herausschauen. Aber faszinierende Literatur braucht noch etwas, um zu leben; etwas, das Storr nicht erwähnt: eine Sprache, in der der Geist des Erzählers seine künstlerische Form findet. Ohne etwa Kafkas glasklares und in seiner Rhythmik fein austariertes Deutsch wäre dessen „Verwandlung“ mehr Gruseltrash als sonst etwas.
Das feine Gespür für die sprachliche Form zu vermitteln oder gar zu wecken, gelingt oft nicht einmal in mehrsemestrigen Schreibkursen. Man muss es daher auch nicht von einem Buch erwarten, selbst wenn es sich Wissenschaftlichkeit im Geschichtenerzählen auf die Fahnen heftet. Wer mit dieser Einschränkung leben kann, dem tut sich in „Science of Storytelling“ eine Fundgrube an inspirierenden Tipps für erzählerische Projekte auf. Gute Englischkenntnisse vorausgesetzt.
Will Storr: The Science of Storytelling. William Collins: London 2019.