Starker Tobak
Cordula Simon und Stefan Auer zeichnen in ihrer Studie „Politische Korrektheit, Wunschdenken und Wissenschaft“ nach, wie sich falsche Vorstellungen über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Sprache in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften festgesetzt haben.
In ihrem Roman „Die Wölfe von Pripyat“ (2022) entwirft Cordula Simon ein Zukunftsszenario, wo zwanghaft positives Denken, Orwell’scher Neusprech und eine alles kontrollierende KI die gechippte („geloggte“) Menschheit im Griff hat. In der „Union“ grüßt man sich mit „Das Licht der Aufklärung leuchte dir“ – was purem Zynismus gleichkommt, denn die Menschheit hängt am Gängelband des großen „Log“ und hat schon längst verlernt, von ihrer eigenen Vernunft Gebrauch zu machen, wie es der Aufklärer Immanuel Kant vor 240 Jahren forderte.
Im Sommer 2024 hat die Romanautorin Cordula Simon nun erstmals ein Sachbuch veröffentlicht bzw. eigentlich ein Fachbuch, das einige Motive ihres dystopischen Romans auf akademische Weise aufarbeitet und Basislektionen in Sachen Linguistik und Wissenschaftskritik erteilt. Gemeinsam mit dem Geisteswissenschaftler Stefan Auer untersucht Cordula Simon als Philologin im Band „Politische Korrektheit, Wunschdenken und Wissenschaft“ das – wie es im Untertitel heißt – „Versagen der Universitäten im Diskurs um Sprache“. Dabei geht es um das interessante Phänomen, dass die Universitäten bei der Verordnung und Umsetzung ihrer Gender-Sprachleitfäden die Augen davor verschließen, dass das windschiefe Theoriegebäude der Gendersprache weitestgehend das Bastelergebnis von akademischen Dünnbrettbohrungen darstellt. Und dass dadurch das Licht der Aufklärung, das an den Universitäten leuchten sollte, ziemlich verdunkelt wird.
641 Fußnoten auf 272 Seiten
Auer und Simon drücken das freilich nicht so polemisch und metaphorisch aus, sondern sie sind in ihrem Buch um Sachlichkeit und Fußnoten bemüht – rund 100 Fußnoten sind es in jedem der sechs Kapitel, auch das Literatur- und Quellenverzeichnis umfasst Hunderte Einträge. Den einen oder anderen Seitenhieb in Richtung Gender Studies kann sich das Autorenduo aber nicht verkneifen. Cordula Simon kennt die methodischen Schwächen dieser Studienrichtung aus eigener Anschauung, denn sie darf auch einen facheinschlägigen Bachelor of Arts der Uni Graz ihr Eigen nennen. „Wir verdanken diesen Studien nicht nur die – oft zweifelsohne durchaus berechtigte – Kritik an manch anderen Studien, sondern vor allem die breit institutionalisierte Propaganda von Falschheiten über die Sprache“, heißt es im letzten Kapitel des Buches. Da haben Auer und Simon bereits peu à peu die Knackpunkte aufgezeigt, die zur irrigen Meinung führen, dass mit Tabuwörtern sowie mit Sternderl, Doppelpunkt oder Binnen-I in Berufs- und Personenbezeichnungen das soziale Zusammenleben sich gerechter ausformen ließe.
Wo Butler Bourdieu missverstand
Das Autorenduo führt den Beweis ausgehend von den grundlegenden Sprachtheorien des Strukturalisten Ferdinand de Saussure bzw. von der Sprechakttheorie John Austins („Sprache ist Handeln“). Nach einer von de Saussure formulierten Einsicht ist es in jeder Sprache beliebig (arbiträr), wie Laute und Zeichen den Dingen, Vorgängen und Eigenschaften zugeordnet werden. Das bedeutet: Es gibt keine zwingende Verbindung z. B. zwischen grammatischer Kategorie (Genus) und biologischem oder kulturellem Geschlecht (Sexus bzw. Gender). Von Austin leiten Auer und Simon ab, dass Sprache zwar in manchen Fällen Handeln sein kann, z. B. in Eidesschwüren oder religiösen Zeremonien, aber dass sie in der Regel keine Änderung in sozialen Konstellationen nach sich zieht. Die Autoren beleuchten danach den Poststrukturalismus von Michel Foucault et al. und die Gesellschaftstheorien von Pierre Bourdieu, der z. T. an Austin anknüpft und seine Thesen weiterführt („Sprache ist Macht“). Sie erwähnen den Export der französischen Ideen in die USA und den Re-Import in Form von Gendertheorien und Queer Studies nach Europa. Vor allem Judith Butler hat sich ausführlich bei Bourdieu bedient, aber wichtige Einsichten des Soziologen unter den Tisch fallen lassen, z. B. dass sprachliche Bedeutung nicht der Form (Grammatik) innewohnt, und dass die gesellschaftliche (Macht-)Position des Sprechers oder der sozialen Gruppe wesentlich dafür ist, ob Sprechakte Wirkung zeigen. Durch diese Weglassung entsteht bei Butler jene verschrobene Sichtweise, dass Sprache ganz allgemein Gewalt sei und in weiterer Folge auch, dass selbst das biologische Geschlecht sozial – nämlich über (Alltags-)Sprache – konstruiert sei.
Steile konstruktivistische Sprachthesen
Erst mit einiger Verspätung wurde versucht, die steile postmoderne These, wonach es primär Sprache sei, die unsere Wirklichkeit bestimme, mit experimentellen Studien zu untermauern, wobei sich hier vor allem die Kognitionspsychologie hervorgetan hat. Untersucht wurde, wie sich bestimmte Sprachformen (Gendersprache vs. generisches Maskulinum) auf die Wahrnehmung der Probanden auswirken. Zwar weisen diese Experimente meist nur geringe Effekte nach, die entsprechend überinterpretiert werden müssen, um gesellschaftliche Relevanz behaupten zu können, und sie haben zahlreiche methodische Schwächen, wie Auer und Simon ausführen, aber das stört die Genderpropagandisten in der Regel nicht. Augenfällig an den Studien sind sogenannte „convenience samples“, also Probanden vorwiegend oder ausschließlich aus dem universitären Umfeld, und durchwegs zu kleine Teilnehmerzahlen an den Versuchen [1]. Problematisch ist auch die in der Regel linguistische Unbelecktheit der Psychologinnen und Psychologen, die die Versuche aufsetzen, sodass die Testfragen meist ohne Kontext dastehen – so als ob sprachliche Verständigung im luftleeren Raum möglich wäre und Sprache allein bestimmte Sichtweisen erzeuge.
Framing? – Sehr windig!
Auer und Simon zerpflücken weiters Elisabeth Wehlings “Framing“-Studien und -Theorien, die in den 2010er-Jahren ziemlich gehypt wurden. Die Framing-Theorie geht von einem prägenden Einfluss aus, den einzelne Begriffe auf unser Denken haben sollen. Zum Beispiel meinte Wehling 2015, das Wort „Flüchtling“ habe einen abwertenden Beigeschmack – und seither wird es in vielen Medien gemieden und durch „Geflüchtete“ ersetzt, obwohl das linguistisch sinnlos und juristisch problematisch ist, weil es zwar eine Flüchtlingskonvention, aber keine „Geflüchtetenkonvention“ gibt.[2] Wehlings Thesen, so zeigen Auer und Simon auf, sind insgesamt reichlich beliebig, und auch die experimentellen Ergebnisse, die Framing-Effekte nachgewiesen haben wollen, ließen sich in späteren Experimenten nicht wiederholen, was auf grobe methodische Mängel der ursprünglichen Studien schließen lässt.
Wozu Empirie, wenn sich auch schwurbeln lässt?
Vielfach verzichtet frau in den Gender Studies überhaupt auf Empirie, und das Vorhandensein allgegenwärtig vermuteter struktureller Ungleichheiten in Sprache und Gesellschaft wird einfach via hermeneutischer Interpretation aus älteren Theorien abgeleitet. Das funktioniert ziemlich gut, sodass sich die Proponent*innen gegenseitig bestärkt fühlen können. Sofern die einschlägigen „wissenschaftlichen“ Artikel die Phraseologie der Gender Studies bedienen, kommt jede noch so absurde Idee durch das Peer Review, wie der US-Physiker Alan Sokal in den 1990ern und das Autorentrio Helen Pluckrose, James A. Lindsay und Paul Boghossian mit Blabla-Artikeln 2016/17 demonstrierten. Letztere jubelten mehreren wissenschaftlichen Zeitschriften gefakte Arbeiten unter, z. B. einen Artikel mit Thesen aus „Mein Kampf“, die auf intersektionalen Genderfeminismus gebürstet waren und die Peer-Review-Hürde des angeschriebenen Magazins spielend nahmen.
Opportunistische Prinzipienlosigkeit
„Die Theorien und Annahmen über Sprache als Gewalt haben ihren Siegeszug in den intersektionalen und damit postkolonialen queeren Gender- und Kulturwissenschaften angetreten“, resümieren Auer und Simon. Das Problem: „Ihre Lehren führen zu einer illiberalen, dogmatisch-totalitären Herangehensweise an Sprache sowohl im öffentlichen als auch im privaten Umfeld.“
Den Universitäten und insbesondere den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften (GSK) würde es durchaus guttun, sich auf die Tugenden der Wissenschaftlichkeit und der wissenschaftlichen Skepsis zu besinnen. Und es würde den GSK vor allem guttun, die blinden Flecken in den eigenen Theorien aufzudecken, anstatt allein hinter jeglichem sonstigen Wissen die soziale Konstruktion zu erblicken (Stichwort: Wissenschaft als Mittel zum Machterhalt des „alten weißen Mannes“). Auer & Simon: „Es wurde seit Generationen verabsäumt zu überprüfen, ob jene als Wissen gehandelten unterrichteten Theorien [der Gender Studies etc.] überhaupt einen Wahrheitsgehalt und eine empirische Entsprechung in der Realität haben.“ Aber nicht nur das: „Unterteilt wird die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte und je nachdem, welcher Identität man hier zugeordnet wird, wird mit unterschiedlichem Maß gemessen, ob ein Beitrag für wahr gehalten oder ernst genommen wird oder nicht. Darin zeigt sich eine opportunistische Prinzipienlosigkeit, die in anderen modernen Wissenschaften nicht zu finden ist.“
Ein überfälliges Buch
Nach einer Reihe von englischsprachigen Publikationen, wie „Cynical Theories“ (2020) von Pluckrose und Lindsey bzw. „Science Fiction“ (2020) von Stuart Ritchie, greifen Stefan Auer und Cordula Simon nun den Ball für den deutschsprachigen Raum auf und üben fundierte Wissenschaftskritik an jenen GSK-Studienfächern an heimischen Unis, die identitätspolitische Konzepte und Ideologien mit akademischen Thesen behübschen, welche einer kritischen Überprüfung in der Regel nicht standhalten. „Politische Korrektheit, Wunschdenken und Wissenschaft“ ist ein wichtiges und überfälliges Buch. Leicht zu lesen ist es durch die überbordende Fülle an Hinweisen und Verweisen freilich nicht, auch wenn sich das Autorenduo in den Zusammenfassungen nach jedem Kapitel um Verständlichkeit bemüht.
Nur das Kapitel über feministische Linguistik fehlt
Durch ihre Konzentration auf die Gender Studies haben Auer und Simon den Beitrag, den die feministische Linguistik bereits seit den 1970-Jahren zur einschlägigen (= sexistischen) Lesart des generischen Maskulinums an Universitäten leistete, völlig außer Acht gelassen. Dabei legte diese Propaganda-Disziplin mit den ersten Genderleitfäden[3] in den 1980ern hierzulande faktisch den Grundstein für den akademischen Soziolekt des Genderns, noch bevor der Name Judith Butler am Horizont auftauchte. Die Proponentinnen der Gender und Queer Studies haben erst in den 2000er-Jahren das von Luise F. Pusch („Das Deutsche als Männersprache“, 1984) und ihren Schwestern im Kampfe angelegte Feld geentert, um die Regenbogenflagge darauf zu hissen. Diese Entwicklungslinie nachzuzeichnen, hätte ein nicht ganz unrelevantes Thema für ein 7. Kapitel abgegeben.
Es ist trotz dieser Lücke zu hoffen, dass die Studie „Politische Korrektheit, Wunschdenken und Wissenschaft“ in der akademischen Welt der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Resonanz erfährt, aber man sollte nicht erwarten, dass sie zur Pflichtlektüre in den Gender Studies wird. In diesem Sinne: Das Licht der Aufklärung leuchte uns!
Cordula Simon, Stefan Auer: Politische Korrektheit, Wunschdenken und Wissenschaft. Das Versagen der Universitäten im Diskurs um Sprache. Westend academics: Berlin 2024. 320 Seiten. 60,70 EUR
[1] Ein Beispiel: Die Studie „Yes I Can!“, die 2015 einen signifikanten Zusammenhang zwischen gegenderten Berufsbezeichnungen und der potenziellen Berufswahl von Volksschülerinnen erkannt haben wollte, leitete ihre Einsicht aus einem Experiment ab, bei dem 17 Mädchen in der Versuchsgruppe saßen.
[2] Zudem hat Wehling die Nachsilbe „-ling“ grob falsch verstanden. Sie dient nicht zur Abwertung, obwohl es einen „Widerling“ und einen „Lüstling“ gibt, sondern lediglich dazu, einen Einzelvertreter aus einer Gruppe zu benennen, siehe: Lehrling, Liebling, Schmetterling.
[3] In Österreich war das der Leitfaden „Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann“ von Ruth Wodak, Gert Feistritzer, Silvia Moosmüller und Ursula Doleschal, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (1987).