Hungrig nach Geschichten
Im Frühjahr 2022 hat er das steirische Atelier-Auslandsstipendium in Berlin genutzt, um an seinem ersten Buch zu arbeiten. Damit setzt Gabriel Proedl den nächsten Schritt in seiner internationalen Karriere als Autor. Schon jetzt gilt der Steirer als Senkrechtstarter im deutschen Erzähljournalismus. Dabei ist er noch keine 25 Jahre alt.
„Porträts wie diese leben ja u. a. von Szenen – und da fällt mir ein, dass ich am Sonntag, dem 25. September wieder für einen Tag in der Steiermark bin“, schreibt mir Gabriel, als wir einen Termin für das Interview für dieses Porträt suchten. Er fahre in seine Heimat, Kirchberg an der Raab. Ob ich mitkommen wolle?
Am 25. stehe ich zum vereinbarten Zeitpunkt beim Treffpunkt in Graz-Mariatrost. Gabriel kommt mit einem Family-Van, ausgeborgt vom Vater seiner Freundin. Ich war neugierig, was er anhaben würde, denn zwei seiner großen Reportagen für die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hatten ihn jüngst in die Welt der High Fashion geführt. Im Frühjahr 2022 hatte er über die deutschen Model-Agentin Eva Gödel geschrieben. Die Düsseldorferin spricht interessant aussehende junge Männer auf der Straße an und bringt einige von ihnen als Models für Prada, Gucci & Dior weltweit groß raus. Anfang September legte Gabriel dann im „Zeit-Magazin“ eine Hintergrundstory über den georgischen Stardesigner Demna Gvasalia nach, dem die Modewelt derzeit zu Füßen liegt. Über Monate hinweg hatte sich Proedl mit der Welt der Haute Couture befasst und Modeschauen in Paris und New York besucht. Er hatte einen Blick auf „Vogue“-Chefin Anna Wintour („Der Teufel trägt Prada“) erhascht und Superstar Pharell Williams als Fanboy von Demna erlebt. Proedl war eingetaucht in den Jetset-Kosmos von Reich und Schön. Würde er bei unserem Treffen vielleicht sauteure Kleidung von Demnas Label „Balenciaga“ tragen? – Nein, Gabriel hat Jeans von der Stange an und ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck „respect the architect“.
Er wirkt fast unscheinbar, nicht wie ein typischer Kreativer, sondern eher wie ein Master-Student der Wirtschaftsfakultät an einem „casual day“. Und genau diese Zurückhaltung in Auftreten und Erscheinungsbild ermöglicht es ihm, den Menschen, die er porträtiert, ganz nahe zu kommen – ob das nun Stars sind wie Demna, der ungern Interviews gibt, oder der ebenso scheue wie kompromisslose französische Literaturjungstar Édouard Louis, dem Proedl im Herbst 2021 im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ ein Porträt widmete.
Kurvenreich in die Oststeiermark
Wir fahren über kurvenreiche Nebenstraßen nach Gleisdorf und unterhalten uns über erzählerischen Journalismus. Wenn Gabriel über das Schreiben und Erzählen spricht, merkt man, was für ein schneller Prozessor in seinem Hirn werkt. Er ist er unglaublich präzise und pointiert in dem, wie er über Texte spricht, aber auch raffiniert darin, was er nicht sagt. Schon im Podcast „Wie haben Sie das gemacht?“, wo er der Reportageschule Reutlingen Auskunft über seine Modelscout-Geschichte gibt, weicht Gabriel der Frage nach Vorbildern elegant aus. Das Gleiche auf der Fahrt nach Kirchberg, als ich ihm mögliche Kandidaten nenne, die sich für seine Art des Schreibens als Vorbilder anbieten: Helge Timmerberg, Alexander Osang und natürlich Hunter S. Thomson, der legendäre Ahnherr des „New Journalism“. Gabriel greift den Ball auf: Was ihn von Hunter S. Thompson vor allem unterscheide: Thompson hat stets Szenen provoziert, sich zum Akteur der Geschichte gemacht. Das liegt Proedl fern. Was ihn mit Thompson verbindet, ist aber das „Ich“, das sich auch Gabriel in seinen Texten erlaubt, um die Authentizität des Berichteten zu unterstreichen. Die Frage nach den Vorbildern bleibt auf diese Weise unbeantwortet, und ich frage nicht weiter nach. Proedls Reportagen sind so oder so meisterhaft. Sie sind nicht bloß gut geschrieben. In ihnen verdichten sich Dutzende Seiten Notizen, die er während der Recherchen anfertigt, zu einer Mischung aus Reflexion, Beschreibung und Dialog, die stilistisch schon in der Literatur anzusiedeln ist. Proedls Texte arbeiten mit Verknappung und sprechenden Details, aber auch mit sprachlicher Rhythmik und bei Bedarf mit subtilen Verschiebungen der Perspektive. Jede Info, die er in seinen Reportagen wiedergibt, leitet sich aus Szenen und Begegnungen ab; nichts wirkt einmontiert oder künstlich eingeschoben. Dem Umstand, dass er den gehobenen Reportagestil so meisterhaft beherrscht, ist es wohl zu verdanken, dass ihn die „Zeit“ nach absolvierter Ausbildung an der Reportageschule Reutlingen anno 2021 sofort als freien Reporter verpflichtet hat.
Dem österreichischen Journalismus rasch entwachsen
Proedl arbeitet von Wien aus. Er schrieb kurz fürs Stadtressort des „Falter“, ist dem österreichischen Journalismus aber schnell entwachsen. Hin und wieder liefert er dem „Standard“ noch einen Auftragstext ab. Alles andere spielt sich in Deutschland ab. Vieles läuft über die Agentur für Erzähljournalismus „Hermes Baby“ mit Sitz in Hamburg, die Gabriel gemeinsam mit sieben Kolleginnen und Kollegen gegründet hat. Jede Woche treffen sie sich virtuell, laden arrivierte Autoren ein und nehmen sich deren Texte vor, um für ihr eigenes Schreiben dazuzulernen. Motto: Wer glaubt, dass er schon gut genug ist, ist es nicht.
Mit der Steiermark ist Gabriel, der seinen Nachnamen an die englische Schreibweise angepasst hat, familiär eng verbandelt: In Birkfeld hat Gabriel seine jüngere Kindheit bei den Großeltern verbracht, in Graz ist er zur Schule gegangen, und in Kirchberg an der Raab, dem wir uns auf der Bundesstraße nähern, war er oft bei den Großeltern väterlicherseits zu Besuch. Gleich wie sein Cousin Sebastian Prödl, der als Fußball-Nationalspieler und Werder-Bremen-Star international Karriere machte, spielt auch Gabriel in seinem Fach – der erzählerischen Reportage – in der obersten Liga.
Erste Erfolge mit Kurzfilmen
In Kirchberg parken wir im Zentrum vor der „Zone“, einem vor zwei Jahren eröffneten kleinen Kulturzentrum, das als Gemeindebibliothek und Veranstaltungsraum dient. Der Organisator der Proedl-Lesung ist schon da. Er und Gabriel besprechen Aufbau und Ablauf der Veranstaltung. Gabriel will zwei Reportagen lesen und zwei seiner Kurzfilme zeigen. Bei „The Taste of Love“ (2018, Regie Paul Scheufler) hat Gabriel das Drehbuch geschrieben, da war er noch keine 18. Der Film wurde erfolgreich bei internationalen Festivals gezeigt. Mit 18 hat Gabriel einen Dokumentarfilm über eine 94-jährige Kirchbergerin gedreht und sie zum Thema Glück befragt. Schon damals war es sein Prinzip, Porträts mit thematischen Fragen zu verknüpfen. Und auch in den Reportagen, die er jetzt schreibt, geht es stets um mehr als nur die Personen, über die er schreibt, sondern immer auch um eine größere Frage, die ihn bewegt, z. B. wie läuft das eigentlich mit dem Erfolg in der Modebranche?
Fake news? – Kein Thema
Mögliche Fragen für ein Gespräch nach der Lesung werden angerissen. Der Organisator denkt in die Richtung Journalismus und Fake News. Gabriel weicht aus, wehrt ab. Dabei hat er seine Abschlussarbeit für die Reportageschule Reutlingen genau zum Thema Lüge geschrieben. Es war ein Porträt über einen Grazer Busfahrer ostdeutscher Herkunft, der den Fahrgästen der Linie 30 oft und gerne über seine Bekanntschaft mit Wladimir Putin erzählt hat. Proedl ging dessen Geschichten auf den Grund. Erschienen ist das Ergebnis seiner Recherche im März 2021 im Artikel „Wer ist eigentlich Generalleutnant Tanneberger?“ in der „Zeit“. Sein erster großer Text für die Hamburger.
Warum Proedl beim Thema „Fake News“ dennoch abwinkt? – Weil es ihm beim Schreiben nur zweitrangig um Journalismus geht. Der ist für ihn nur eines von mehreren möglichen Medien. An erster Stelle steht das Erzählen selbst: Proedl ist hungrig nach Geschichten. Und er will sie nicht nur schreiben, er will dabei sein, er will sie selbst erleben. Wenn er diese Geschichten dann anhand der Fakten erzählt, wird es eine Reportage. Wenn er die Erlebnisse stilisiert, wird es ein literarischer Text, so wie „Wahnsinnsnacht, Mama“, erschienen in der Literaturzeitschrift „manuskripte“, Heft 231: eine Momentaufnahme der Terrornacht des 2. November 2020 in Wien. Gabriel war an diesem Abend Gast im Burgtheater, wo die Besucher nach der Aufführung aufgefordert wurden, im Foyer zu bleiben. Auch bei diesem Text beeindruckt sein literarisches Talent. Proedl erhielt dafür 2021 den „manuskripte“-Förderpreis der Stadt Graz zugesprochen.
Nächster Halt: Literaturbetrieb
Auf der Rückfahrt von Kirchberg nach Graz reden wir über Gabriels weitere Pläne. Im kommenden Jahr will er sein erstes Buch fertigstellen. Die renommierte Münchner Literaturagentur Marcel Hartges hat ihn bereits unter ihre Fittiche genommen. Proedl ist damit in Gesellschaft von Autoren wie Ferdinand von Schirach, Heinrich Steinfest und Benjamin von Stuckrad-Barre. Keine schlechte Ausgangslage.
Mit dem Autoren-Aufenthaltsstipendium des Landes Steiermark verbrachte Gabriel den April 2022 am Literarischen Colloquium Berlin, um an seinem Buchprojekt zu arbeiten. Diese Stadt inspiriert ihn unheimlich. „Wenn ich an Berlin denke, ist alles wie ein Rausch. Wenn ich in Berlin bin, hört einfach der Tag nie auf“, schwärmt Gabriel von der deutschen Hauptstadt der Kreativen. Worum es im Buch gehen wird? Gleich wie bei der Frage nach seinen Vorbildern hält er sich bedeckt: Es wird ein literarisches Werk, kein journalistisches. Mehr ist ihm nicht zu entlocken. Man darf gespannt sein, wie sich die junge Edelfeder auf dem literarischen Parkett der Bundesrepublik bewährt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass er auch dort sehr bald groß rauskommt.
Der Text erschien im Oktober 2022 in der Porträtreihe „ARTfaces“ am Kulturportal des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung.