Graz ist crazy

Auf den Spuren von Neu-Schilda

Graz ist eigentlich eine geniale Stadt: nah an den Alpen, nicht weit weg vom Meer; mit regem Kulturleben und reichlich Landschaft rundherum; groß genug, dass man nicht jeden Tag die gleichen Leute sieht, wenn man in die Innenstadt geht; und heimelig genug, dass man doch immer wieder Freunde und Bekannte auf der Straße trifft, ohne sich extra verabreden zu müssen. Die Wirtschaftsdaten sind nicht schlecht, und die Lebensqualität ist hoch – außer im Winter, wenn Abgase und Autos den Grazern Feinstaub in die strapazierten Lungen pumpen.

Unter den Tausenden Unternehmen, die in Graz ihren Sitz haben, befindet sich auch die gescheiteste Firma Österreichs. Niemand meldet in der Alpenrepublik mehr Patente pro Jahr an als die AVL List GmbH, ein auf Motorenentwicklung, Fahrzeugsimulation und Antriebsprüfstände spezialisiertes High-Tech-Unternehmen mit Tochterfirmen rund um den Globus. 155 schützenswerte Ideen und Erfindungen reichte AVL allein im Jahr 2016 zum Patent ein, wie aus dem Jahresbericht des österreichischen Patentamts hervorgeht. Und es gibt noch etliche andere Spitzenunternehmen, in denen die blitzgescheiten jungen Leute, die an den Grazer Unis und Hochschulen studieren, qualifizierte Jobs finden. Kein Wunder, dass Graz zu den am stärksten wachsenden Städten in Österreich zählt. Im Jahr 2003, als der jetzige Bürgermeister Siegfried Nagl sein Amt antrat, waren in Graz rund 235.000 Einwohner gemeldet; am 1. Jänner 2017 waren es bereits über 285.000; im Jahr 2025 könnten es über 300.000 sein, wenn die statistischen Prognosen sich erfüllen.

Die Zumutungen des Gescheitseins

Vielleicht sind die Attraktivität von Graz und der stete Zuzug etwas, was der aktuellen Grazer Stadtregierung Sorge bereitet und dem sie gezielt entgegenwirken will. So wie in den mittelalterlichen Geschichten über Schilda: Die Bewohner dieses Städtchens waren ursprünglich so gescheit, dass sie in alle Welt als Berater von Fürsten und Königen gerufen wurden, und die Leute, die daheim blieben, hatten darunter zu leiden, weil keiner nach dem Vieh sah und weil die Felder verkümmerten. Erst als sich die Schildbürger blöd anstellten – zuerst mit Absicht, dann aus Gewohnheit und schließlich, weil es ihnen zur Natur wurde –, hatten sie Ruhe vor den Zumutungen des Gescheitseins.

In den letzten Jahren kann man im genialen Graz ähnliche Tendenzen beobachten. Mit vollem Ernst und wider alle Vernunft kommen aus dem Rathaus (dreieckig, fensterlos) Ideen für Graz, wo man sich nur an den Kopf greifen kann. Beispiele gefällig? – Kein Problem!

Was würde man in Neu-Schilda machen, wenn man weiß, dass zu viele Autos in der Stadt unterwegs sind, die Leute unter den Abgasen leiden und sanfte Mobilität eigentlich die Lösung wäre? Richtig, man würde den Bau der siebenten Großraum-Parkgarage mitten in der Innenstadt planen, nämlich genau dort, wo es sich nicht nur während der mehrjährigen Bauzeit, sondern auch danach so richtig schön stauen würde, wenn die Autos zufahren wollen. Und das alles allein dafür, dass zur Haupt-Shoppingzeit im Advent der Wahnsinn in der Innenstadt noch weiter überhandnehmen kann. Denn zu jeder anderen Jahreszeit sind die bestehenden Parkgaragen ohnehin kaum je voll.

Oder: Wie könnte man problemlos ein paar Millionen versenken, wenn man sich jahrelang als Stadt mit mediterranem Flair dargestellt hat, die Durchschnittstemperaturen dank Klimaerwärmung von Jahr zu Jahr leicht steigen und in den Wintern Schnee zur immer größeren Rarität wird? – Richtig, man gibt seine Kandidatur als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2026 bekannt und lässt dafür schon mal teure Gefälligkeitsstudien erstellen, bevor einem gemeinerweise die Landesregierung die Unterstützung versagt und damit in die Kunstschneeparade fährt!

Allein diese beiden Projekte ließen bei manchen Beobachtern den Verdacht aufkommen, die Grazer Schnapsbrennerei Bauer wäre für die Wasserversorgung des Grazer Rathauses zuständig und hätte aus Versehen die Destillate aus ihren Brennblasen direkt dort eingeleitet. Anders lässt es sich schwer erklären, mit welchem Elan die Stadtregierung Schnapsideen wie diese verfolgte, bevor die Vorhaben zum Glück verhindert werden konnten.

Alles auf Schiene bzw. Seil

Auffällig ist auch die Besessenheit, mit der die Grazer Mitte-rechts-Stadtregierung der Jahre 2017 ff. diverse Gondel- und U-Bahn-Pläne aufs Tapet bringt. Dabei sind spurgebundene Transportsysteme seit jeher die Ur-Domäne der linken Politik. Auch in der Literatur sind Straßenbahn und Eisenbahn stets Metaphern für eine kollektivierte Wirtschaft, bei der der Einzelne unter die Räder kommt: so wie die Hauptfigur Jakob, ein DDR-Eisenbahner, in Uwe Johnsons Roman „Mutmaßungen über Jakob“; so wie der arme Wicht Berlioz, der im dritten Kapitel von Bulgakows „Meister und Margarita“ von der Straßenbahn überrollt wird; und so wie der traurige Trinker in Wenedikt Jerofejews promillereicher Sowjetparabel „Reise nach Petuschki“. In der Literatur zieht sich die Eisenbahn-Kommunismus-Parallele bis in die Gegenwart. Sogar Julian Barnes‘ Schostakowitsch-Roman „Der Lärm der Zeit“ aus dem Jahr 2016 beginnt mit einer Szene am Bahnsteig.

Davon unbeeindruckt zog der Grazer ÖVP-Bürgermeister, ansonsten beileibe kein ausgesprochener Kommunisten-Freund, 2018 die Idee einer U-Bahn für Graz aus der Schublade. Vielleicht, weil das Projekt so richtig teuer und nur bedingt sinnvoll ist. Kostenpunkt: geschätzt rund 200 Millionen Euro – pro gebautem Kilometer! Macht ca. 1,2 Milliarden für die sechs Kilometer, die das Transportsystem unterirdisch zwischen den Stadtbezirken Eggenberg im Westen und St. Leonhard im Osten zurücklegen soll. Wenn man kurz darüber nachdenkt, was die Bauarbeiten für die Stadt bedeuten, auf wie viele in der Erde ruhende Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg man dabei wieder stoßen könnte, und vor allem, was man mit dieser Summe bei den eher lahmen Grazer Öffis auf Jahre hinaus alles verbessern könnte – von neuen Buslinien und der Elektrifizierung der Busflotte über einen Ausbau der Straßenbahnlinien samt höheren Straßenbahnintervallen bis hin zu vergünstigten Jahreskarten für alle Öffi-Benutzer –, dann möchte man gleich wieder bei der Firma Bauer anrufen, sie möge um Himmels willen doch die Zuleitung ins Rathaus endlich abdrehen!

Aber die U-Bahn ist nicht einmal die einzig lustige Transportidee, mit der die Stadtregierung aufwartet. Zu den fantastischen U-Bahn-Plänen gesellen sich noch zwei Gondelprojekte: Bei dem einen soll eine Nord-Süd-Verbindung über den reißenden Wassern der Mur die Leute von Park-and-Ride-Plätzen in Gösting und Puntigam in die Innenstadt pumpen. Diese Idee ist wenigstens noch halbwegs originell. Schon eher zwangsoriginell ist es, das verschlafene Naherholungsgebiet Plabutsch mit einer Gondel aufzuwecken und diese über den Berg westwärts in die Gemeinde Thal weiterzuführen. Dort, so heißt es, können die Pendler die Gondel nützen, um nach Graz zu kommen.

Studienautor müsste man sein

Nun gibt es wahnsinnig viele Leute, die wochentags nach Graz einpendeln: von Osten aus Weiz, von Südosten aus der Feldbacher Gegend, von Süden aus Leibnitz, von Südwesten aus Lieboch, von Norden aus Bruck und Gratkorn – mit anderen Worten: Von allen Speckgürteln her kommen sie zu Abertausenden. Nur die Zahl, die von Thal aus einpendelt, ist ziemlich überschaubar. Macht nichts. Es wird wieder mal eine halbe Million Euro für eine Machbarkeitsstudie lockergemacht, und es wurden auch schon die entsprechenden Waldstücke für das große Nonsens-Projekt erworben. Waldbesitzer müsste man in Graz sein. Oder Studienautor. Oder Schildermacher. In der Stadt der Schilda-Macher.

Graz ist crazy. Das fällt jedem sofort ins Auge, der sich auf der Autobahn der Stadt nähert. Denn wie ist seit 2015 auf den touristischen Autobahnschildern, die zu einem Besuch in Graz verleiten sollen, so schön zu lesen? Nicht mehr schlicht „Graz – Kulturstadt“. Nein, das wäre viel zu unoriginell. Stattdessen heißt es dort auf hyperinspirierte Art unter anderem: „We Graz You“ und „Graz You Very Much“. Besser lässt sich die mitunter dadaistisch anmutende Grazer Stadtpolitik eigentlich nicht auf den Punkt bringen.

(2019)

Textprobe aus Werner Schandor: Wie ich ein schlechter Buddhist wurde. Essays, Glossen und Polemiken. Edition Keiper 2020

https://www.editionkeiper.at/shop/produkt/wie-ich-ein-schlechter-buddhist-wurde/
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