Eine Art Aufmerksamkeit
Warum Meinungsforschung nicht gleich Marktforschung ist, aber auf alle Fälle der Durchschnitt zählt.
„Wer Fragen hat, macht um sie einen Bogen herum.“ (Helmut Schranz)
Warum rufen so oft Leute an, die einen nach der Meinung zu diesem oder jenem befragen wollen? Wie kommt es, dass Wahlprognosen dermaßen oft danebenliegen? Und wer sind eigentlich die Menschen, die Meinungsforschung betreiben? Ich habe meinen Cousin, den Marktforscher Odilo Seisser, um ein Interview gebeten. Der Psychologe schlitterte in den 1970er-Jahren in die Marktforschung und kam davon nicht mehr los. Sein Handwerk hat er bei Fessel-GfK (jetzt GfK Austria) erlernt, einem der führenden Marktforschungsinstitute in Österreich. Gemeinsam mit seiner Kollegin Susanne Eberl-Wolff leitet er seit 2008 das Institut Research & Data Competence in Wien. Ursprünglich hatte ich überlegt, ihm einen Fragebogen mit Multiple-Choice-Antwortmöglichkeiten zu schicken. Aber ich entschied mich dann doch für die qualitative Form eines Interviews, das wir im Sommer 2015 telefonisch führten.
Anrüchige Meinungsforschung
Ich hatte mir eine Reihe von Fragen überlegt, die sich mit der Arbeit und dem Selbstbild von Meinungsforschern beschäftigten. Doch gleich die erste Antwort meines Cousins brachte mich leicht aus dem Konzept, denn er stellte klar, dass sich die wenigsten Vertreter seiner Zunft freiwillig Meinungsforscher nennen würden. Warum? – Odilo Seisser: „Der Begriff Meinungsforschung hat in der Marktforschung einen anrüchigen Beigeschmack, weil Meinungsforschung einen politischen Aspekt hat, den man als Forscher nicht beeinflussen kann. Die meisten Marktforschungsinstitute betreiben zwar auch Meinungsforschung, aber unter dem Mantel der Verschwiegenheit. Denn sehr oft werden diese Ergebnisse für politisch-strategische Zielsetzungen hergenommen: Zum einen hoffen Parteien, mit der Veröffentlichung von Ergebnissen aus Meinungsumfragen noch einmal einen Schub für die Wahlgänge zu bewirken oder aber den Gegner zu beruhigen und in Sicherheit zu wiegen. Die Meinungsforschung sitzt da meist zwischen den Stühlen, und der Forschungsaspekt bleibt auf der Strecke. Das zweite Problem mit dem Begriff ‚Meinungsforschung‘ ist, dass damit auch immer eine Art von Populismus einhergeht. Und da kann man sich persönlich schwertun damit.“
Merke: Meinungsforschung bezeichnet die Durchführung von Meinungsumfragen, die das politische Klima im Land ausloten wollen. Die Marktforschung hätte demgegenüber einen „objektiveren Charakter“, sagt mein Cousin: „Sie hat nicht die gesellschaftliche Reichweite wie die Meinungsforschung, durch deren Einfluss sich unter Umständen Machtverhältnisse ändern können. Und damit ist die Marktforschung von den Auswirkungen und damit auch den Schadensmöglichkeiten her wesentlich begrenzter: Einen möglichen Schaden haben höchstens Unternehmen, die den Auftrag vergeben haben – und das auch nur, wenn man die Studie schlecht durchgeführt hat oder schlecht damit umgeht. Da kann man sich als Forscher viel, viel weniger die Finger verbrennen.“
Viele Freistilforscher
Dann will ich mir ein Bild von der Größe des Marktes für Marktforschung in Österreich machen. Eine Zahl, wie viele Institute hierzulande Umfragen durchführen, hat Odilo nicht zur Hand, aber er sagt: „Es ist ein großer Markt mit einer Menge von Instituten, die sich darin bewegen. Die genaue Zahl kenne ich nicht auswendig, aber sie ist nicht zu unterschätzen und auch deshalb sehr groß, weil er sehr viele Schnittstellen zu unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen hat. In der Markt- und Meinungsforschung tummelt sich von den Publizisten bis hin zu den Betriebswirten, den Soziologen und Sozialwissenschaftlern bis hin zu den Unternehmensberatern und IT-Spezialisten ein sehr breites Szenario von Personen und Institutionen.“
Es stellt sich heraus, dass in Österreich jeder, der unbescholten ist, sich als Marktforscher im Gewerberegister eintragen lassen kann. Es gibt keine Zulassungsbedingungen, keine Qualitätskriterien und natürlich auch keine Ausbildungsrichtlinien. Vor allem viele IT-Firmen hätten die Möglichkeit genutzt, ohne sozialwissenschaftliches Fundament in die Marktforschung zu gehen. Odilo Seisser: „Viele der neuen Institute kommen ursprünglich aus der IT-Branche. Die Unternehmen haben IT-Lösungen entwickelt, wie man Daten erfassen, vernünftig ablegen und dann analysieren kann, und im Bereich der Marktforschung angeboten, und in der Folge haben die IT-Firmen das um Fragebögen erweitert – und bieten mittlerweile das Gleiche in der virtuellen Welt an, was klassische Marktforschungsinstitute in der realen Welt machen. Das Medium hat es plötzlich ganz leicht gemacht, Fragen an Hunderttausende in relativ kurzer Zeit in den virtuellen Raum zu schicken, ohne zwingend darauf zu schauen, wer diese Fragen beantwortet und was da zurückkommt.“
Mein Cousin meint, das hätte der Marktforschung einerseits einen Schub gegeben und andererseits auch für eine Richtungsänderung gesorgt: „Auf der methodischen Seite kommt dadurch das Gesetz der großen Zahl zur Anwendung. Man geht davon aus, dass ein Ergebnis umso zuverlässiger ist, je mehr Leute ich befrage. Das ist natürlich ein kompletter Trugschluss, weil es nicht um die Anzahl der Menschen geht, sondern darum, welche Menschen ich zu welchem Thema und für welche Untersuchung befrage. Die klare Definition, wer da eigentlich die Zielgruppe ist, müsste im Vordergrund stehen, aber die wird bei Internetbefragungen sehr häufig salopp übergangen. Und da sagt man: Ich habe 5.000 oder 70.000 Interviews – auf jeden Fall in Tausenderbereichen – und das ist gut genug, um eine zuverlässige Information darzustellen. Was aber nicht immer stimmt.“
Woran man eine gute Studie erkennt
Der Verband der Marktforscher Österreichs (VMÖ) – ein Zusammenschluss von derzeit rund 60 Marktforschungsinstituten – fordere daher klare Richtlinien, was die Anforderungen in der Branche und die Qualität von Umfragen betreffe. Das bringt mich zur nächsten Frage, die ohnehin auf meiner Liste stand: Woran erkennt der Experte die Unterschiede in der Qualität von Marktforschung?
Odilo Seisser nennt zwei Kriterien: „Erstens ist Transparenz unheimlich wichtig in der Branche. Transparenz bedeutet, es muss offengelegt sein, wie und auf welchem Weg man zu den Daten kommt. Das muss bestimmten methodischen Standards Genüge tun. Das heißt: Wenn jemand sagt, ich mach jetzt eine Stichprobe, die ein repräsentatives Abbild von einer Grundgesamtheit sein soll, dann muss jedes Element der Stichprobe eine angebbare, berechenbare und vor allem beschreibbare Chance haben, an der Umfrage teilzunehmen. Idealerweise nach einem Zufallsschlüssel. Es muss also offengelegt sein, wie man an die Personen kommt.
Das Zweite ist: Wie geht man mit den Daten um? Es gibt Eingriffe in Daten: Beispielsweise, wenn man eine österreichweite repräsentative Umfrage macht, und man erreicht zu wenig Landbevölkerung in den Randlagen Österreichs in dieser Umfrage, dann gewichtet man die Daten der Gruppe, die zu klein ist, um einen bestimmten Gewichtungsfaktor. Das ist o.k. – wenn es offengelegt wird, und wenn es nachvollziehbar ist, mit welchem Faktor bestimmte Teilsegmente versehen werden. Aber das fehlt sehr häufig. Ein Auftraggeber kann das einfordern, nur die meisten wissen das nicht und haben oft auch nicht mehr die Qualifikation, solche Aspekte zu bewerten.“
Journalisten und Zahlen – ein Trauerspiel
In den 1980er- und 90er-Jahren hätte es in den größeren Unternehmen noch vielfach Sozialwissenschaftler und Betriebswirte als Betriebsmarktforscher gegeben, die Marktforschungsstudien zu deuten gewusst hätten. Mittlerweile aber fehle dieses Wissen in den Firmen. Ähnlich sei die Situation bei Medien, die ihre Reichweiten umfragen lassen. Nur, dass diese auch anfälliger für den manipulativen Umgang mit den Umfrageergebnissen seien. „Firmen sagen meistens: Wir nehmen 30.000 Euro in die Hand und geben eine Studie in Auftrag; und wenn das Ergebnis nicht den Zielsetzungen entspricht, ist das auch o.k., dann ersparen wir uns wenigstens, nochmals Geld zu investieren“, sagt Odilo Seisser. „Ein Medium aber – eine Zeitung, die Leseranteile messen will – muss ein Ergebnis, das nicht den Erwartungen entspricht, unter den Tisch fallen lassen, weil sonst der Werbekuchen kleiner wird. Das ist die Grundproblematik.“ Und er fügt noch an: „In den Sozialwissenschaften wird das unter dem Titel Verwertungszusammenhang thematisiert.“
Dass außerdem die meisten österreichischen Journalisten erschreckend unfähig sind, Zahlen von Studienergebnissen richtig zu interpretieren und kritisch zu hinterfragen, gehört zu meinen liebsten Vorurteilen diesem Berufsstand gegenüber, der auf nicht unmaßgebliche Art die öffentliche Meinung beeinflusst. Ich erzähle meinem Cousin von einem Artikel im Wirtschaftsteil der Salzburger Nachrichten vom Dezember 2013, wo zu lesen war, aus Hackerangriffen erwachse Österreichs Firmen ein jährlicher wirtschaftlicher Schaden von vier Milliarden Euro. Ich hatte den Redakteur angeschrieben, wie er bitte auf diese Zahl komme, und er verwies auf eine Studie einer niederösterreichischen Fachhochschule, die man sich aus dem Internet downloaden konnte. Die „Studie“ stellte sich als Bachelorarbeit von Studenten heraus: Die Studentengruppe hatte irgendwelche 29 Manager befragt, wie hoch sie das Risiko und den Schaden durch Cyberkriminalität einschätzen würden. Aus dieser absolut nicht stichhaltigen Befragung leiteten die Salzburger Nachrichten ihre Meldung mit den 4 Milliarden Euro Schaden für Österreichs Wirtschaft ab. Solche journalistischen Trauerspiele finden sich in jedem österreichischen Medium – bis hin zu den an sich hochseriösen Ö1-Nachrichten.
Mein Cousin kennt ähnliche Beispiele. Wenn etwa Prozentzahlen bei Umfrageergebnissen angegeben werden, und auf Nachfrage stellt sich heraus, dass vielleicht 12 Personen befragt wurden. Odilo Seisser: „Das sind natürlich klassische Irreführungen. Man arbeitet mit Prozentzahlen, und die symbolisieren eine Größenordnung und Exaktheit, die es de facto nicht gibt.“ Dasselbe gelte auch für auf den ersten Blick unverdächtige Größen wie Kommastellen. Seisser: „Die Medien weisen oft Umfrageergebnisse aus, wo Prozentzahlen mit Kommastellen angegeben sind. Also 69,3 % sagen dies und 27,8 % sagen jenes. Und das ist natürlich zur Gänze irreführend, weil Umfrageergebnisse tatsächlich nie so eine Genauigkeit haben. Die Meinungsforschungsergebnisse, die auf Stichproben beruhen, haben immer einen Unschärfebereich, und den kann man angeben. Man könnte also sagen: Zwischen 65 und 70 % der Befragten, also rund zwei Drittel, sind dieser oder jener Meinung. – Das würde der tatsächlichen Messgenauigkeit entsprechen, die man erreichen kann. Aber die Medien tun so, als ob die Umfrageergebnisse ein physikalischer Maßstab seien.“ Sein Schluss: „Vielleicht liegt es daran, dass Menschen Zahlen mehr Vertrauen schenken, wenn sie genauer scheinen, als eher vagen Zahlenangaben.“
Die 2.500-Euro-Sonntagsfrage
Wenn man über Zeitungen und Zahlen spricht, ist man plötzlich wieder beim Thema Meinungsumfrage. Mich interessiert, was denn so eine Umfrage kostet, und erfahre, dass die Sonntagsfrage („Wen würden Sie wählen, wenn nächsten Sonntag Wahlen wären?“) mit 2.000 bis 2.500 Euro vergleichsweise billig kommt. Meist wird diese Frage in einem Set anderer Fragen mitabgefragt – daher die moderaten Kosten.
Und warum liegen die Umfrageergebnisse vor Wahlen verglichen mit dem Wahlergebnis oft so total daneben?, will ich wissen. Hier nennt mein Cousin zwei Gründe: „Da kommt einmal der Effekt der sozialen Erwünschtheit zum Tragen. Wenn man sich in einer Befragung öffentlich kundtut, dann nimmt man eher etwas her, von dem man glaubt, dass es sozial akzeptiert und anerkannt ist und gutgeheißen wird. Das führt zum Beispiel dazu, dass vor den Wahlen die FPÖ immer unterschätzt wird. Das Zweite ist: Mit den Vorwahlbefragungen wird relativ viel Humbug betrieben. Für die Institute ist es betriebswirtschaftlich schon attraktiv: Je mehr Wahlen, desto besser rennt das Geschäft. Alle Parteien wollen eine Umfrage, Zeitungen veröffentlichen im Zweitagesrhythmus irgendwelche Ergebnisse, und da werden dann unter enormem Zeitdruck von den Instituten 500 Menschen befragt. Da passiert dann sehr häufig ein weiterer Verfälschungseffekt: Am Telefon oder übers Internet erwischt man dann nur Ausschnitte der Bevölkerung; am Telefon etwa jene, die viel daheim sind; und die unterscheiden sich von denen, die viel unterwegs sind. So bekommt man oft ein falsches Bild in den Umfragen, und das hängt wiederum mit dem Zeitdruck zusammen, unter denen diese Umfragen entstehen. Ein seriöses Institut würde sich einen bestimmten Zeitraum ausbedingen, um seine Umfragen durchzuführen. Aber da stehen die Marktforschungsinstitute oft zu sehr unter ökonomischem Druck.“ – Aha. Ich hatte schon so was in der Richtung geahnt, aber jetzt ist mir klar, warum auf diese Umfragen tatsächlich nicht viel zu geben ist.
Keine Umfragen, bitte!
Ich gestehe meinem Cousin, dass ich persönlich an keinen Umfragen mehr teilnehme. Eine Zeitlang habe ich jeden einschlägigen Anruf entgegengenommen und geduldig Fragen zu meinen Freizeit- oder Kaufgewohnheiten beantwortet. Bis mir klar geworden ist, dass die Art der standardisierten Befragung mich in ein Schema presst, das mir nicht behagt. Also lehne ich mittlerweile alle telefonischen Bitten ab, an Umfragen teilzunehmen. Für meinen Cousin liegt das Problem in der Mischung aus Marktforschung und Marketing, die von manchen Instituten betrieben werden würde. Er sagt: „Es gibt Institute, die erheben irgendwelche Konsumgewohnheiten und arbeiten mit sehr aggressiven, aufdringlichen Callcenters, die es ständig und zu den unmöglichsten Zeiten und kontinuierlich probieren; und die erfassen Informationen über dein Konsumverhalten, und wenn du mit ihnen redest und Pech hast, bekommst du zwei Wochen später jede Menge Prospekte und Werbematerial zu Tiefkühlkost und dergleichen – je nachdem, was du kundgetan hast. Das ist eigentlich in der Marktforschung nicht erlaubt, und die seriösen Institute distanzieren sich auch davon. Das ist auch für die Marktforschung selbst unangenehm, denn es steigt das Misstrauen. Für unsere Interviewer wird es immer schwieriger, einen Fuß in die Tür zu bekommen, wenn jeden zweiten Tag schon irgendein Verkäufer vor der Tür gestanden ist, der auch mit einem Fragebogen gekommen ist, aber gleichzeitig etwas loswerden wollte. Das passiert leider sehr häufig. Österreich ist da eher noch in einem geschützten Raum; aber in Deutschland ist da ungleich mehr los, was diese Verquickung von Marketing und ‚Marktforschung‘ betrifft.“ – Im Übrigen würde es bei seriösen Instituten reichen, dass man sagt, man möchte aus dem Verteiler gestrichen werden, und die Sache sollte damit erledigt sein.
So weit, so gut. Obwohl ich mich mittlerweile verweigere, verstehe ich dennoch den Reiz, an Umfragen teilzunehmen. Er speist sich meiner Meinung nach aus dem Widerspruch zwischen sozial behaupteter Individualität bzw. Wichtigkeit des Einzelnen und täglich erlebter Realität der eigenen Unwichtigkeit: Dass man nämlich in den großen Zusammenhängen der Politik, aber auch der globalen Wirtschaft und als Kunde von Großkonzernen in Wahrheit nur ein kleines, unbedeutendes Würstchen ist. Dann bekommt man einen Anruf, und jemand ist in der Leitung, der einen nach seiner Meinung oder seinen Erfahrungen fragt – und man denkt: Hurra, jetzt kann ich endlich meine Meinung sagen!
„Befragungen sind auch eine Art Aufmerksamkeit“, bestätigt mein Cousin: „Man signalisiert den Auskunftspersonen: Sie müssen jetzt nicht teilnehmen, aber wenn doch, dann haben sie die Chance, ihre eigene Meinung, ihre persönlichen Einstellungen, ihre Wahrnehmung, ihre Erfahrungen kundzutun, und das kann dazu führen, dass es für den Betroffenen vielleicht in Zukunft besser wird; dass ein kundengerechteres Produkt oder ein angemesseneres Service resultiert.“ – Das glaube ich jetzt wieder weniger, aber ich lass mich gerne überraschen.
Beitrag zur Verdurchschnittlichung
Nun steht die letzte Frage auf meinem Zettel. Genau richtig, denn ich merke, wie meinem Cousin schon ein wenig die Luft beim Reden ausgeht. Ich habe ihn auf einem Spaziergang erreicht, und Gehen und Reden scheint ihn anzustrengen. Also: „Hast du in deiner Karriere mal ein ganz überraschendes Umfrageergebnis erlebt, das die Ausgangshypothese über den Haufen geworfen hat?“
Die in der Konsequenz weitreichende Antwort darauf möchte ich in der ganzen Länge wiedergeben. Odilo Seisser: „Ich komme eigentlich aus der Sozialforschung, und dort habe ich bei einer Begleitstudie zu einer medizinischen Einrichtung für Drogenkranke tatsächlich erlebt, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung für diese Einrichtung viel größer war als angenommen, weil die Medien im Vorfeld große Widerstände artikuliert haben. Die tatsächliche Situation vor Ort, die sich aus der Befragung ergeben hatte, war viel positiver, als wir uns gedacht haben. Das ist so ähnlich wie aktuell mit der Flüchtlingspolitik in Österreich: Die Menschen selber sind – wie man an vielen Beispielen sieht – durchaus hilfsbereit und bieten Hilfe und Leistungen an; nur die politischen Rahmenbedingungen sagen ganz etwas anderes. Oft ist es so – und das passt zu deiner Anmerkung zur Individualisierung von vorher: Der Maßstab von Markt- und Meinungsforschung ist immer der Durchschnitt; es ist immer das Mittelmaß, wenn man so will. Die Ergebnisse lauten: ‚Im Durchschnitt sind die Menschen dieser oder jener Ansicht.‘ – Und das führt dazu, dass die, die davon ein bisschen abweichen, sich manchmal in ihrer Einstellung dem Durchschnitt zuwenden, weil das natürlich der sichere Hafen ist. In der Reflexion kann man sagen, dass Markt- und Meinungsforschung, wenn sie in der Präsentation und in der Ergebnisdarstellung den Durchschnitt zu sehr in den Mittelpunkt rückt, eigentlich zu einer Art Nivellierung der Gesellschaft beiträgt – zu einer Verdurchschnittlichung. Längerfristig gesehen orientieren sich die Leute stärker an den Durchschnittswerten, Durchschnittseinstellungen, Durchschnittsverhalten, damit sie ja nicht auffallen. Und dadurch nimmt man das schöne Bunte bedauernswerterweise aus der Gesellschaft raus. Das heißt, man sollte in der Forschung meiner Meinung nach viel mehr ganz bewusst die Extremgruppen beachten, analysieren und zu verstehen versuchen – jene, die nicht im Durchschnitt liegen. Das wäre eine Forderung an die Szene selbst.“
Werner Schandor
Das Interview erschien in gedruckter Fassung in Heft 28, „wie meinen?“, der Zeitschrift schreibkraft