Surreale Retro-Fiction
Als Mediendesigner und Hochschullehrer war Orhan Kipcak dermaßen eingespannt, dass er kaum zum Schreiben gekommen ist. Jetzt hat er die ersten Texte seines „Plotlexikons“ veröffentlicht. Endlich.
26 Jahre lang musste ich auf neue Texte von Orhan Kipcak warten: von 1996, als eine Kurzgeschichte von ihm in der ersten Ausgabe des „Liqueur“ zu lesen war – einer kurzlebigen literarischen Zeitschrift des Forum Stadtpark anno 1996/97 -, bis 2022, als mir Orhan einige Texte aus seinem in Arbeit befindlichen „Plotlexikon“ zum Lesen gab, nachdem ich ihn jahrelang immer wieder nach Texten gefragt hatte.
Dazwischen war der Mediendesigner vollends mit anderen Dingen beschäftigt, unter anderem damit, die digitale Umgebung von Ausstellungen zu gestalten, z. B. beim von Peter Weibel kuratierten Österreich-Pavillon auf der Biennale in Venedig 1997, der der Wiener Gruppe gewidmet war. Aber auch der steirische herbst, das Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien und die Linzer Ars Electronica zählten im Kunst- und Kulturbereich zum großen Kundenkreis des Digitalpioniers, der seine gestalterischen Wurzeln in der Architektur hat. Von 2000 bis 2004 war Kipcak zudem Referent für Neue Medien im Forum Stadtpark, 2001 wurde er als Professor für Mediendesign an die FH Joanneum geholt.
Rohstoff Meditationsschlacke
„In einem unterirdischen Labor, tief eingesenkt ins Karakorumgebirge, steht eine Zentrifuge gewaltiger Größe. Diese Zentrifuge, die Erfindung des genialen Physikers und Onto-Phänomenologen Professor Volcanova, hat die Aufgabe groß- und feinstoffliche Meditationsschlacken voneinander zu scheiden. Meditationsschlacken sind materialisiertes falsches Bewusstsein. Sie fallen bei den Meditationsübungen ungeübt oder unentspannt Meditierender an.“ So beginnt Kipcaks Kurzgeschichte „Z – wie Zentrifuge“, die Teil seines „Plotlexikons“ ist. Nach und nach sollen zu sämtlichen Buchstaben des Alphabets kurze oder längere Storys in Heftchenform ihren Weg an die Öffentlichkeit finden. Die „Literatur-Fumettis“ sind mit Illustrationen des Grafik-Künstlers Norbert Gmeindl versehen und erscheinen im Verlag des Künstlerkollektivs monochrom.
Art Director der literarischen Kleinform
Ende Februar 2024 hat Kipcak einen Text aus dem „Plotlexikon“ beim „Festival der Pataphysik“ der Wiener „schule für dichtung“ vorgestellt, wo er seit den späten 1990ern medienbezogenes Schreiben lehrt. Auch die Studierenden am Institut für Sprachkunst an der Wiener Angewandten kommen in den Genuss von Kipcaks vertiefter Medienerfahrung. Dort gehören Mikrohörspiele und ausgefallene Formate wie literarische Ansagen für Mailboxes zu den von ihm gestellten Aufgaben. „Ich gehe nicht mit dem Anspruch in den Unterricht, dass ich literarische Ezzes gebe“, sagt Kipcak, „sondern ich sehe mich eher als Art Director, der Feedback gibt, ob die Texte im jeweiligen Medium funktionieren.“
Er selbst hat das Handwerk des Schreibens Anfang der 1990er an der Wiener Filmakademie gelernt, wo er ein Jahr lang Gasthörer in der Drehbuch- und Dramaturgieklasse von Walter Wippersberg war. „Wippersberg hatte einen Down-to-earth-Zugang und hat uns immer kleine Schreibaufträge gegeben. Ich habe da sehr viel mitgenommen und ein Gespür für dramaturgische Bögen entwickelt und dafür, wie man die Aufmerksamkeit steuert.“
Das Innere der Zentrifuge
Das damals Gelernte setzt Kipcak auch heute in seinen Kurzgeschichten gekonnt um. Die Aufmerksamkeit wird beispielsweise in das Innere der ominösen Zentrifuge im Karakorum gelenkt, die „Ontogone“ produziert: ein bläuliches Lebenselexier, das feinstoffliche Einsamkeit erzeugt – die Voraussetzung für menschliches Glück. Um die Zentrifuge zu beaufsichtigen „und zugleich ihre Abscheidungsprozesse telepathisch zu stabilisieren“, wird nur ein einziger Mensch benötigt. „Professor Volcanova selbst wählt die Person aus, die jene eminente Aufgabe zu erfüllen hat. In einer Kartei vielversprechender Wissenschaftler fällt ihm das Bild einer ernsten jungen Ingenieurin auf. Das Dossier teilt mit: ein Findling, aufgewachsen unter Nonnen, gelobtes als fleißiges Lernkind, gefördert in Internaten und Eliteschulen, Summa-cum-laude-Studentin.“
Kakanische Fantastereien und Surfmusik
Der Name des Professors ist einem Album-Titel der deutschen Surfband „The Kilaueas“ entlehnt: „La Excentricas Aventuras del Profesor Volcanova“ aus dem Jahr 2005. Eine Referenz an Kipcaks musikalische Leidenschaft, die Surfmusik. Er selbst lässt in der Grazer Formation „Wetter“ die Saiten seiner Fender Stratocaster tremolieren.
Die Vorgänge und kleinen Konflikte in Kipcaks Texten sind oft exzentrisch bis skurril. Die Orte, an denen sie spielen – versteckte Berghöhlen im Karakorum oder das Fürstenturm Haimon im Balkangebirge in „H wie Haimon“ – sind in einer fiktiven kakanischen Vergangenheit angesiedelt. So wie die „Maghrebinischen Geschichten“ des 1914 geborenen Autors Gregor von Rezzori, dessen Geschichten Kipcak faszinieren. Rezzori wuchs in Czernowitz auf, studierte in der Steiermark und wirkte in Deutschland als Journalist, Autor und Filmschauspieler, ehe er nach Italien ging, wo die Stadt Florenz ihren Literaturpreis nach ihm benannte. „Meine Lieblingsautoren sind alle aus der Generation von 1880 bis 1950″, verrät Kipcak. Neben Rezzori und dem einschüchternden Werk von Robert Musil sind das vor allem die Vertreter der französischen Spielliteratur, allen voran Raymond Queneau, der Intellekt und Ironie in tänzerisch leichten Romanen miteinander verband.
Die Sprache verschrobener Milieus
Wie Queneau greift Kipcak in seinen Geschichten Sprache und Stilebenen der unterschiedlichen, verschrobenen Milieus auf, in denen seine Figuren stets an ihren festen Prinzipien und fixen Ideen scheitern. Auch bei der „Zentrifuge“ kommt es zur Katastrophe: Das Ontogon erlöst die Menschheit, die Weltwirtschaft kollabiert, die Menschen produzieren keine Meditationsschlacke mehr. Im letzten Abschnitt des Textes sitzt Professor Volcanova am Pianino „und spielt den immer gleichen Moll-Akkord: ‚Eine neue Welt‘, stellt er fest, ‚sanft bewegter Stillstand, leidenschaftslose Euphorie – ein ewiger Sonntag.‘“ Kipcak greift hier eine Utopie des einflussreichen russisch-französischen Philosophen Alexander Kojéve alias Alexander Koschewnikow auf. Dieser sah das Ende der Menschheit nicht in einer kosmischen Katastrophe kommen, sondern im Ende allen menschlichen Aktionismus. – Eine tröstliche Vorstellung, die Kojéve aus der Philosophie Hegels ableitete, und die Kipcak in surreale Retro-Fiction verwandelt.
Wenn uns einst der „Sonntag des Lebens“ (so der Titel von Kipcaks liebstem Queneau-Roman) in seine laue Sülze einlullt, dann wünsche ich mir einen Liegestuhl im Schatten, neben mir einen Mokka und ein Gläschen Cognac, wie es die kuk-Offiziere in den Romanen von Joseph Roth zu trinken pflegen, und alle 26 Literatur-Fumettis von Kipcaks „Plotlexikon“, um mir die Zeit mit phantastischen Geschichten aus einer nie gewesenen Vergangenheit zu vertreiben. So ließe sich das gut aushalten …