Operationen an der Sprache

Das Chirurgenbeispiel diente jahrelang dazu, die deutsche Sprache als tief männlich zu präsentieren und damit die Notwendigkeit der Gendersprache zu begründen. Dabei lassen sich damit noch viel besser die Unzulänglichkeiten dieser Kunstsprache aufzeigen.

Auf der Website der Uni Graz bin ich 2021 auf das bekannte Chirurgenbeispiel gestoßen, mit dem Proponentinnen der Gendersprache seit vielen Jahren gerne nachweisen, dass die Sprache männlich orientiert ist und daher umgemodelt werden muss. Der Text auf der Website der Uni las sich folgendermaßen:

Ausgangsbeispiel

Ein Vater bringt an einem Samstagnachmittag seinen Sohn mit dem Auto zum Fußballspielen. Mitten auf einem Bahnübergang bleibt ihr Wagen stehen. Der Vater bemüht sich verzweifelt, den Motor wieder anzulassen. Es gelingt ihm jedoch nicht und das Auto wird von dem herannahenden Zug erfasst. Der Vater erliegt noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen. Der Sohn schwebt in Lebensgefahr und wird mit schweren Kopfverletzungen in ein Krankenhaus gebracht, das auf derartige Verletzungen spezialisiert ist. Die Operation wird sofort vorbereitet. Jemand aus dem Chirurgenteam beugt sich über den Jungen und wird blass: „Ich kann nicht operieren, das ist mein Sohn!“

Frage: In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Chirurg und Kind?

Antwort: Die Mutter ist gemeint. Und weil der Text (und die Frage) so verfasst ist, dass einem das nicht gleich einfällt, wird gefolgert, es ließe sich diesem Übel dadurch Abhilfe schaffen, dass man das böse generische Maskulinum aus der deutschen Sprache eliminiert. „Die Wirkkraft der Sprache, die bei Gebrauch des generischen Maskulinums in unserer Vorstellungswelt während des Hörens/Lesens dieses Rätsels vorrangig männliche Personen erscheinen lässt, wird hier sehr deutlich. Genau diesen Effekten soll durch geschlechtergerechten Sprachgebrauch entgegen gewirkt werden“, hieß es dazu in einer Erklärung des universitären „Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen“.

Massives Framing

Dadurch schüttet man allerdings das Kind mit dem Bade aus. Denn dass einem bei diesem Beispiel nicht gleich eine Chirurgin in den Sinn kommt, liegt weniger am generischen Maskulinum an sich (zumal „jemand“ und „Chirurgenteam“ keine Maskulina sind), sondern daran, dass die Vorstellungen der Leserschaft bei diesem Text massiv in Richtung männliche Stereotype gelenkt werden. Sodass man am Ende, wenn absichtlich missverständlich nach einem „Chirurgen“ gefragt wird, unweigerlich an einen Mann denkt – ein Paradebeispiel dafür, was man in der Kommunikation „Framing“ nennt. Also für eine bewusste Steuerung der Deutungsraster.

Und so kommt es zustande: Zum einen sind in unseren Breiten ca. 80 % der Chirurgen Männer und nur 20 % davon Frauen. Das ursprünglich aus den USA stammende Chirurgenrätsel zielt genau auf diese beruflichen Stereotype ab. Das Framing beginnt jedoch schon woanders, nämlich: Der Text legt von Beginn an männliche Vorstellungswelten nahe, indem von Vater, Sohn und Fußballspielen erzählt wird. Diesen Bildern, die das Denken in „männliche“ Bahnen lenken, könnte man leicht ausweichen, indem beispielsweise der Vater eine Tochter zum Fußball bringt statt des Sohnes (oder eine Tante eine Nichte). Sprachlich bräuchte es allerdings nicht einmal das. Denn am Ende würde der männliche Spin des Textes (egal ob mit Vater, Sohn, Tochter, Tante oder Nichte) schlagartig verpuffen, wenn man nur ein einziges Wort austauschte:

Nicht gegendert, trotzdem klar

Ein Vater bringt an einem Samstagnachmittag seine Tochter mit dem Auto zum Fußballspielen. Sie ist Stürmerin im U16-Team ihres Vereins. Mitten auf einem Bahnübergang bleibt der Wagen stehen. Der Vater bemüht sich verzweifelt, den Motor wieder anzulassen. Es gelingt ihm jedoch nicht, und das Auto wird von einem herannahenden Zug erfasst. Der Vater erliegt noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen. Die Tochter schwebt in Lebensgefahr und wird mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Die Operation wird sofort vorbereitet. Eine Ärztin aus dem Chirurgenteam beugt sich über das Mädchen und wird blass: „Ich kann nicht operieren, das ist meine Tochter!“

Frage: In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Chirurgin und Kind?

Irgendwelche Unklarheiten?

Ein Wort genügt, um Klarheit zu schaffen

Wie diese Variante zeigt, muss man das Chirurgenbeispiel schon extra eigenwillig formulieren, um es, wie in der weitverbreiteten Fassung, als Beispiel für männliche Sprachdominanz hernehmen zu können. Wer würde im echten Leben „Jemand aus dem Chirurgenteam“ schreiben oder sagen, wenn konkret eine Ärztin gemeint ist? Die landläufige Lösung, eine Frau als Frau zu benennen, wenn eine Frau gemeint ist, scheint für die Sprachkämpferinnen jedoch zu simpel zu sein. Sie rücken dem selbstkonstruierten Problem lieber mit anderen Mitteln zu Leibe, die sie für geeignet halten, „sprachliche Gerechtigkeit“ herzustellen, zum Beispiel mit dem Genderstern oder ähnlichen Zeichen und Finten. Und das liest sich dann so:

Regelkonform gegendert

Ein Vater bringt an einem Samstagnachmittag seine Tochter mit dem Auto zum Fußballspielen. […] Die Tochter schwebt in Lebensgefahr und wird mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Die Operation wird sofort vorbereitet. Eine Person aus dem Chirurg*innenteam beugt sich über das Mädchen und wird blass: „Ich kann nicht operieren, das ist meine Tochter!“

Frage: In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Chirurg*in und Kind?

Diese Variante entspricht dem, was zehn von zehn Genderratgeber als „gerechte Sprache“ empfehlen. Sie weisen damit den holprigen Weg in eine „gendersensible“ Sprachumgebung. In Wahrheit belegt diese Handhabe vor allem, dass das Sprachverständnis der Genderratgeber vielfach unterkomplex ist. Ein Teil dieser Unterkomplexität besteht darin, die Sprache über einen Kamm zu scheren und beispielsweise nicht zwischen Behördendokumenten und Erzählungen zu unterscheiden. Dabei sind für die jeweiligen Textsorten ganz verschiedene Zugänge angemessen.

Erzählungen – und um eine solche handelt es sich auch bei unserem Chirurgenbeispiel – leben davon, dass sich die Vorstellungswelten nach und nach aufbauen. Das Verständnis entwickelt sich prozesshaft. Wer Wörter gendert, geht aber in der Regel davon aus, dass sich die Klarstellung, welchem Geschlecht die handelnde oder leidende Person angehört oder nicht, sofort und ausschließlich an „neutralen“ Personenbezeichnungen zu vollziehen habe. – Das ist ein Punkt, den sogar die Genderlinguistin Helga Kotthoff in einem jüngeren Aufsatz gegen das sture Niedergendern von Texten ins Treffen führt. Sie schreibt: „Wenn wir in literarische Werke hineinschauen, begegnen uns jede Menge […] geschlechter-übergreifend gemeinter Maskulina – und sofern sie im Plural auftauchen, wird diese Referenz erst allmählich konkretisiert. Dann entsteht vor unserem inneren Auge peu à peu ein buntes Personengemisch. Ja, allmählich!! Die kognitionspsychologischen Experimente unterstellen hingegen eine sofortige Festlegung.“ (Helga Kotthoff: Gendern auf Teufel*in komm raus? Nachdenken über Sprachwandel zwischen bedenklicher Symbolpolitik und berechtigtem Anliegen. In: Der Sprachdienst, Ausgabe 6/21)

Eindeutigkeit (aber auch Offenheit) stellt sich nicht nur in Erzählungen, sondern oft auch in der Informationsvermittlung aus dem Kontext und dem Nacheinander von Informationen her. Das prozesshafte Sprachverständnis dominiert unseren Kommunikationsalltag, wird aber in Genderleitfäden ausgeblendet. Aus dieser Ignoranz heraus gewinnt die Gendersprache, bei der jedes auf Personen bezogene Wort sofort mit Genderzeichen markiert werden muss, ihre bürokratische, zwanghafte Anmutung. Und vielleicht hat auch die massive Ablehnung der Gendersprache in der Bevölkerung damit zu tun, dass die Kunstsprache des Genderns dem organischen Verständnisprozess, der kommunikativen Akten innewohnt, zuwiderläuft.

Die Zukunft des Chirurgenbeispiels

In letzter Konsequenz hyperkomplex wird die Gendersprache, wenn man das generische Maskulinum nicht mehr als generisch auffasst, sich zusätzlich von binären biologischen Modellen verabschiedet und daher alle möglichen Geschlechterkonstruktionen und sexuellen Gefühlslagen mit künstlichen Verrenkungen in der Sprache „repräsentiert“ sehen will. Unser Chirurgenbeispiel könnte sich 2033, formal korrekt gegendert, so lesen:

Eine samenspendend*gebärende Person bringt an einem Samstagnachmittag sein*e*ihre*n Tochter*Sohn*in mit dem Auto zum Fußballspielen. Mitten auf einem Bahnübergang bleibt ihr Wagen stehen. Die samenspendend*gebärende Person bemüht sich verzweifelt, den Motor wieder anzulassen. Es gelingt ihr*m jedoch nicht und das E-Auto wird vom Wasserstoffzug erfasst. Die samenspendend*gebärende Person erliegt noch an der Unfallstelle sein*ihren Verletzungen. Die*der Tochter*Sohn*in schwebt in Lebensgefahr und wird in ein Krank*innenhaus gebracht. Die Operation wird sofort vorbereitet. Jefrau*mand aus dem Chirurg*innenteam beugt sich über den*das LGBTQ+-Jung*Mädchen und wird blass: „Ich kann nicht operieren, das ist mein*e Tochter*Sohn*in!“

Frage: In welchem Verhältnis stehen Chirurg*in und Tochter*Sohn*in?

Gerechte Sprache?

Das einzige Gerechte an dieser Art Sprache ist, dass sich alle gleich schwertun, da noch mitzukommen.

Das Chirurgenbeispiel wurde übrigens 2022 von der Website der Gleichstellungsbüros der Uni Graz entfernt. Vielleicht hat irgendwer ein Einsehen gehabt, dass es ein blödes Beispiel ist.

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