Der Tiefhörer
Eine Glosse übers Musikhören
Ich liebe Musik, aber mein Horrorberuf wäre Musikkritiker. Nicht, weil ich ungern kritisiere – ganz und gar nicht: Seit 30 Jahren verfasse ich Literaturkritiken, und ich liebe es, meine (natürlich vollkommen ausgewogene und stets begründete) Meinung zu gelesenen Büchern in Worte zu gießen. Aber anders als beim Lesen, wo ich mich als Readaholic bezeichne, bin ich in Sachen Hören das absolute Gegenteil von einem Vielhörer. Allein der Gedanke, dass so ein Musikkritiker pro Woche drei, vier, fünf neu erschienene Alben durchhören muss, treibt mir den Tinnitus ins Ohr.
Jetzt werden Sie vielleicht glauben, ich bin Lärm- oder Musikneurotiker, aber das trifft es auch nicht. Ich höre eigentlich täglich Musik. Nur auf eine Weise, für die es keinen eigenen Namen gibt. Vielleicht gibt es keinen Namen dafür, weil meine Neigung so selten ist. Vermutlich ist sie einfach so unbedeutend, dass sich bislang niemand die Mühe gemacht hat, einen Namen für das Phänomen zu suchen. Denn wie ein Mensch seine Musik hört, ist den meisten Leuten egal. Mir jedoch nicht, denn Musik spielt eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben.
Musik ist gewissermaßen der Gradmesser dafür, ob es mir gut geht oder nicht. Wenn es mir gut geht, habe ich immer Musik im Kopf bzw. im inneren Ohr. Und wenn diese Musik verstummt, oder wenn sich keine Melodie finden will, die es sich in meinem Kopf bzw. inneren Ohr für ein paar Tage oder Wochen häuslich einrichtet, dann weiß ich, dass ich unrund drauf bin. Eigentlich sehr praktisch: Man wacht auf, man hat eine Melodie im Kopf, man weiß: Heute bin ich gut drauf. Oder man wacht auf und vernimmt Stille. Oder nur den Tinnitus. Und sofort ist mir klar: Heute könnte ein verkackter Tag werden! Und dass es höchste Zeit ist, Musik zu suchen, die es wert ist, gehört zu werden. Immer und immer wieder. Denn so höre ich Musik: Immer dasselbe Album immer und immer wieder. Und immer dieselben Stücke rauf und runter.
Von 2018 bis 2021 habe ich praktisch nur die mittleren und späten Streichquartette von Beethoven gehört. Zuerst die Rasumowsky-Quartette, dann die Galizin-Quartette. Zuerst nur die italienische Aufnahme, die durch Zufall in meinem Schrank gelandet ist, dann habe ich mir aktiv verschiedene Aufnahmen zugelegt und vergleichend gehört: Zuerst also sechs Monate lang das Quartett Nr. 7 in der Einspielung des Quarteto Italiano aus den 1970ern – oh zarter Schmelz der italienischen Streicher! Dann drei Monate lang die lebendigere Aufnahme des Alban Berg Quartetts aus den 1980ern. Und schließlich fast ein dreiviertel Jahr die auf Kante gebürstete Einspielung des Belcea-Quartetts, die seit den 2010ern das Maß der Dinge ist.
Monatelang jeden Tag die gleichen Stücke hören? – Ja, das ist meine Art, Musik zu hören. Von 2004 bis 2015 habe ich auf diese Weise rund 20 Studio- und Bootleg-Alben von Bob Dylan durchgenommen (zum Leidwesen meiner Familie). Dann kam eine unstete Phase, wo ich alle vier Wochen den Tonträger gewechselt habe. Da bin ich in das Spätwerk von David Bowie eingetaucht („Heathen“, „Reality“, „The Next Day“) und habe einen Ausflug in den zeitgenössischen Jazz unternommen (Emile Parisienne, John Scofield, Yaron Herman …). Und dann kamen die Beethoven-Jahre – mit kurzen Abstechern zu Haydn (Quinten-Quartett) und Schubert (Klaviertrios und Sonaten).
Wenn ich einen Namen dafür finden müsste, wie ich Musik höre, würde ich sagen, ich bin ein Tiefhörer – also einer, der beim Hören in die Tiefe geht. Vielleicht könnte man es auch als Intensivhörer bezeichnen. Während ich dies schreibe, läuft im Hintergrund übrigens das Album „When the Pawn …“ der US-Songwriterin Fiona Apple – zum vermutlich 500. Mal seit März 2020. Ihre fantastischen Songs sind seit dem ersten Lockdown immer um mich. Was ich an ihr sehr schätze: Apple veröffentlicht nur alle fünf Jahre ein neues Album. Mehr Musik braucht man nicht. Fiona und ich, wir würden uns vermutlich gut verstehen, wenn’s ums Hören geht.