Ist es denn ein Wunder?
Manchmal dauert es ein bisschen mit dem Lesen. Vor 15 Jahren fand Josef Škvoreckýs 700 Seiten starker Roman „Das Mirakel“ den Weg in mein Bücherregal. Irgendwie hat es nie gepasst, das Buch zu lesen – bis 2017 im Sommer, wo mich der Ziegel plötzlich angelacht hat.
Jetzt bin ich froh, dieses grandiose Werk nicht voreilig aussortiert zu haben. Denn das Buch ist ein eindringliches Abbild eines Stücks Zeitgeschichte. „Das Mirakel“ entführt einen ins kommunistische Tschechien. Ein Teil spielt in den frühen kommunistischen Jahren 1949/50, wo brutal gegen „Konterrevolutionäre“ (z. B. Priester und Gläubige) vorgegangen wurde, der andere Teil gibt die Stimmung rund um den Prager Frühling 1968 wieder, als die Hoffnungen der Tschechen auf ein offeneres Regime zerschlagen wurden. Protagonist ist in beiden Teilen das alter Ego des Autors, Danny Smiricky. 1949 kommt Smiricky als junger Lehrer an einer Mädchenschule in der tschechischen Provinz und wird dort von den Mädchen der Abschlussklasse angehimmelt. Die Schülerin mit dem Spitznamen Fuchsi macht ihm sehr handfeste Avancen, denen er zu Beginn allein deshalb nicht nachkommen kann, weil er sich auf einem sozialistischen Kongress bei einer Tête-à-Tête mit einer südamerikanischen Genossin den Tripper geholt hat und die schmerzhafte Erkrankung erst auskurieren muss.
Gemeinsam mit Fuchsi wohnt Danny zufällig einem Gottesdienst bei, bei dem sich die Statue des hl. Josef – scheinbar ohne Zutun eines Menschen – bewegt. Ist es ein Wunder? Oder wurde die Statue über einen geheimen Mechanismus vom Priester selbst bewegt? Die Frage bleibt offen. Fest steht nur: Der Priester kommt bei der anschließenden „Befragung“ durch kommunistische Funktionäre ums Leben, wobei es ein offenes Geheimnis ist, dass er zu Tode gefoltert wurde. Die 1948 in Tschechien an der Macht gekommene KP duldet keine Wunder neben dem der proletarischen Revolution. Und sie verfolgt alle, die darüber anders denken, mit kompromissloser Brutalität.
Abgesang auf den Kommunismus
Wer das „Mirakel“ liest, wird sich danach schwer tun, die Ideen des Kommunismus je wieder vom Terror der „Diktatur des Proletariats“ zu trennen. Und dabei berichtet Josef Škvorecký nicht einmal von Gulags und Foltergefängnissen, sondern bevorzugt vom Alltag in der Provinz und von der Boheme in Böhmens Hauptstadt Prag: Auch mehr als 25 Jahre nach dem seltsamen Vorfall in der Kirche – Danny ist mittlerweile erfolgreicher Autor und Operettenlibrettist in Prag – ist das Wunder in der tschechischen Kleinstadt noch immer ein Rätsel. Es beschäftigt nicht nur den Agnostiker Danny, sondern auch die kleine, in Untergrund gedrängte Gemeinde von Gläubigen nach wie vor. Ein katholischer Zeitungsredakteur gelangt zur Information, wonach Altar und Statue von KP-Funktionären mit einem Mechanismus manipuliert wurden, um den Priester als Schwindler zu entlarven und den Wunderglauben im Ansatz zu ersticken. Der Redakteur kann relativ offen über seine Mutmaßungen berichten, denn wir schreiben das Jahr 1968, und in Prag macht sich die Hoffnung breit, dass die Zeit des rigiden Kommunismus vorbei ist und das Recht auf freie Meinungsäußerung dem Regime ein menschliches Antlitz geben könnten. Doch diese Aussichten werden zunichte gemacht: Alexander Dubček, Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, wird nach Moskau zitiert, und im Gegenzug werden sowjetische Panzer in die Tschechoslowakei entsandt, um zu verhindern, dass das Bruderland vom rechten Weg abkommt. Viele Tschechen fliehen ins Ausland, andere gehen in die innere Emigration. Allgemein macht sich Resignation breit.
Josef Škvorecký ist 1926 in Nordost-Tschechien geboren und starb 2012 in Toronto, wo er ab 1969 lebte. Er schrieb „Das Mirakel“ 1971 im kanadischen Exil und schöpft dabei aus dem Vollen. Škvorecký erzählt von Liebe, Folter, Hoffnung, Resignation, Absurdität und Zivilcourage, von Wundern und Ernüchterung und spiegelt die tschechische Geschichte im Mikrokosmos der böhmischen Kleinstadt bzw. der Prager Künstlerboheme wider. Mit seinem Romanerstling „Feiglinge“ aus dem Jahr 1958 wurde Škvorecký zum Begründer einer modernen tschechischen Literatur und inspirierte Autoren wie Milan Kundera. Im „Mirakel“ zeichnet er ein eindrückliches Gesellschaftspanorama der kommunistischen Tschechoslowakei mit all ihren Widersprüchen, Brüchen und Abgründen. Dank des trotz allem heiteren Grundtones und der vielen emotionalen Schichten lässt Škvoreckýs Buch im direkten Vergleich Milan Kunderas „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, das ebenfalls den Prager Frühling thematisiert, fast geziert aussehen. „Das Mirakel“ ist ein großartiger Roman. Aber leider nur noch antiquarisch erhältlich.
Josef Škvorecký: Das Mirakel. Ein politischer Krimi. Aus dem Tschechischen von Johanna Posset und Hanna Vintr. Deuticke: Wien 2001
Die Rezension erschien im Heft 32, „durchlesen“ des Feuilletonmagazins schreibkraft. „Das Mirakel“ und andere Bücher von Josef Škvorecký sind erhältlich über das Zentralverzeichnis Antiquarischer Bücher (ZVAB).