Frischer Wind in der Manege
Zeitgenössischer Zirkus vereint Artistik, Tanz und Theater und etabliert sich schön langsam auch in Österreich als Kunstform. Von Werner Schandor
Graz im Sommer 2016: Die Artisten der französischen Zirkustruppe Cheptel Aleïkum wissen, wie man Gäste willkommen heißt. Sobald man das Zelt betritt, das sie im Grazer Augarten aufgeschlagen haben, erhält jeder einzelne Besucher von einer Artistin im Smoking ein herzliches Bussi links, ein Bussi rechts auf die Wange und wird dann in die Manege gebeten: Dort ist ein Büffet aufgebaut mit pikanten Häppchen, Obst, Schoko-Fondue und Crepes-Pfanne, zum Trinken gibt es Säfte, Schnaps und Wein. Das Herz geht auf, und der Magen freut sich auch. Als nach rund 15 Minuten alles aufgegessen und ausgetrunken ist, heißt es Manege frei für eineinhalb vergnügliche Stunden Akrobatik und Musik, bei der Fahrräder die Hauptrolle spielen: Zehn Personen, verteilt auf zwei Drahtesel, musikalische Verfolgungsjagden durch die Manege, viel gute Laune – Cheptel Aleïkum entführen ihr Publikum in eine sprühende Welt der Leichtigkeit; aber auch ein kurzes, pantomimisches Intermezzo über die Mechanismen der Unterdrückung hat Platz in ihrem Programm „Maintenant ou Jamais“ (Jetzt oder nie).
Die 2004 ins Leben gerufene Truppe Cheptel Aleïkum mit Stammsitz in Saint-Agil im Loire-Tal ist eine der zahlreichen Repräsentanten eines neuen, zeitgenössischen Zirkus in Europa, der, wenn es nach der Bundesregierung geht, auch in Österreich bessere Bedingungen vorfinden soll. Seit 2016 stellt die Kunstsektion im Bundeskanzleramt einen Fördertopf für innovative österreichische Zirkusprojekte zur Verfügung. Der ist mit 200.000 Euro im Jahr zwar vergleichsweise schmal dotiert, aber es ist ein erster Schritt in Richtung Anerkennung der Zirkuskunst als förderungswürdige Kunstform. Anderswo ist sie längst etabliert, etwa in Frankreich oder Kanada.
Die Wandlung in den 1970ern
„In den 1970er-Jahren begann sich der klassische Nummernzirkus in Frankreich zu transformieren, er nahm Elemente von Tanz und Theater auf und entwickelte sich zum Neuen Zirkus“, erläutert Werner Schrempf, Intendant von La Strada und Cirque Noël. Die beiden Grazer Festivals sind seit Jahren eine wichtige österreichische Anlaufstellen für entdeckenswerte zeitgenössische Zirkusproduktionen. Unter dem Etikett „Neuer Zirkus“ sind zumeist nur etablierte Institutionen bekannt wie der 1976 in Wien gegründete Circus Roncalli oder das von Montreal aus global agierende Zirkusimperium des Cirque des Soleil, der ab 9. März mit seinem Programm „AmaLuna“ in Wien gastiert. Diese beiden Unternehmen knüpfen an die altbewährten Tugenden der Manege an – atemberaubende Artistik und verblüffende Körperbeherrschung –, verfeinern sie mit choreografischer Finesse und professioneller Dramaturgie. Und sind damit höchst erfolgreich.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Zirkus von „Artisten, Tiere, Attraktionen“ vielerorts weiterentwickelt zu einer Zirkuskunst, die Artistik, Performance, digitale Medien und gesellschaftliche Anliegen miteinander verknüpft und damit abendfüllende Produktionen gestaltet. Die sind nicht mehr unbedingt auf das Rund einer Manege angewiesen, sondern fühlen sich oftmals auf Theater- und anderen Bühnen wohler. Zum Beispiel der Cirkus Cirkör aus Stockholm: Er machte unter der Ägide seiner Prinzipalin Tilde Björfors das Schicksal der Flüchtenden aus Krisenregionen zum Gegenstand seines jüngsten Programms „Limits“. Dabei werden Grenzüberschreitungen sowohl artistisch als auch politisch interpretiert. „Alles ist möglich! Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Limits müssen ausgeweitet werden“, schreibt Björfors im Begleitheft zu diesem Programm, das mit schrägen Ebenen arbeitet, mit der wunderbaren Leichtigkeit von Trampolinartistik und mit Filmprojektionen von flüchtenden Menschen – die manche der Besucher so verstören, dass sie den Saal verlassen.
Scheitern und Zerbrechlichkeit
„Im traditionellen Zirkus geht es immer darum, übermenschliche Kräfte und Kunststücke vorzuführen und dabei noch zu lächeln, und es ist alles relativ mühelos. Im zeitgenössischen Zirkus geht es um eine Suche nach Authentizität, und da kann man auch mal mit Scheitern und Zerbrechlichkeit umgehen. Es geht um eine Darstellung einer zeitgenössischen Subjektivität und Identität“, sagt Elena Lydia Kreusch bei einem Pressegespräch im Dezember 2016 in Wien. Die Theaterwissenschaftlerin hat sich auf Zirkusforschung spezialisiert. Als weitere Tendenzen im zeitgenössischen Zirkus nennt Kreusch: Er kommt ohne Tierdressur und ohne traditionelle Kostüme aus, und die normative Geschlechterdarstellung wird aufgebrochen. Es gibt Einflüsse anderer Kunstsparten wie Tanz, Theater und Performance, aber auch skulpturale Elemente der bildenden Kunst. Dramaturgisch bewegt sich der zeitgenössische Zirkus mit seinem stärker performativen Charakter weg vom reinen Nummernprogramm hin zu abendfüllenden Stücken, die oft nur mit ein oder zwei artistischen Disziplinen arbeiten – wie etwa Cheptel Aleïkum mit seinen Rad-Kunststücken zeigen.
Elena Kreusch ist nicht nur Forscherin, sondern setzt als Expertin auch wesentliche praktische Akzente. Gemeinsam mit dem in Wien lebenden deutschen Artisten Arne Mannott hat sie die Internetplattform zirkusinfo.at eingerichtet. Es ist eine offene Plattform für alle, die in Österreich Zirkuskunst betreiben oder diese Kunstform unterstützen. Die Homepage www.zirkusinfo.at listet Künstler und Kompanien ebenso auf wie Aus- und Weiterbildungsstätten, Raumangebote und Dokumentationseinrichtungen in Österreich. Es ist eine erste Bestandsaufnahme des zarten Pflänzchens des zeitgenössischen Zirkus hierzulande und wird sowohl vom Bundeskanzleramt als auch von der IG Kultur unterstützt.
Ein Master in Zirkuskunst
Die meisten Artisten, die sich dem zeitgenössischen Zirkus zurechnen, gibt es naturgemäß in Wien und Umgebung. Die wichtigsten Festivals für Neuen Zirkus finden aber in den Bundesländern Salzburg und Steiermark statt: La Strada und Cirque Noel in Graz wurden bereits genannt; das Winterfest in Salzburg ist aktuell das größte und wichtigste Festival zeitgenössischer Zirkuskunst in Österreich. Die Länder Steiermark und Salzburg sind bislang auch die einzigen Bundesländer, die Neuen Zirkus in ihrem Kulturförderportfolio führen.
„Der zeitgenössische Zirkus muss in Österreich sein ästhetisches Selbstverständnis erst finden und auch seinen Platz als Kunstform im Bewusstsein verankern“, sagt Elena Kreusch. Während in Österreich artistische Straßenperformances – oft die Keimzelle der freien Zirkuskunst – mit rigiden Bestimmungen bürokratisch in Schach gehalten werden, blickt die Szene blickt mit langen Zähnen nach Frankreich. Dort wird die Zirkuskunst seit den 1970er-Jahren staatlich unterstützt wird: Nicht weniger 90 Zirkusschulen, davon drei staatlich betriebene, bieten im ganzen Land Ausbildungen an, die zum Teil mit Bachelor-Graden schließen. Zahlreiche Festivals bieten Auftrittsmöglichkeiten, und auch Einrichtungen, die der Dokumentation der Zirkuskunst dienen, haben in diesem System Platz. Der französische Staat fördert die Kunstform Zirkus mit 14 Millionen Euro jährlich. Auch Schweden hat in Sachen Ausbildung nachgezogen: An der Universität Stockholm kann man seinen Master in Zirkuskunst machen.
Zirkushochburg Salzburg
Österreich ist von solchen Zuständen weit entfernt. Zirkus wird hier vorwiegend noch als Familienunterhaltung angesehen, die man mit kleinen Kindern besucht. Das ist keinesfalls geringzuschätzen, und die Kompanien, die klassisch mit ihren Zirkuswägen und Zelten durch Österreich touren, haben oft hervorragende Artistik im Programm. Doch der zeitgenössische Zirkus hat vielfach andere Ambitionen. Er hat nicht nur artistische, sondern auch ästhetische oder politische Ansprüche, die er niederschwellig unter die Leute bringen will. Mit zirkusinfo.at, mit der Förderung durch den Bund und mit Initiativen wie con:circ – Zur Förderung des zeitgenössischen Zirkus in Österreich, der La Strada und das Winterfest angehören, will man diese Ambitionen befördern.
So bringt sich das Festival La Strada in Graz als Produktionsstätte ins Spiel, wo ausgewählte heimische Künstler und Kompanien eingeladen werden, neue Programme zu entwickeln. Salzburg will sich rund um das erfolgreiche Winterfest als Ausbildungsstätte für Neuen Zirkus in Österreich etablieren. Die Konzepte für ein „Circus-Trainings-Zentrum“ lagen schon länger vor. Unlängst haben Stadt und Land Salzburg grünes Licht gegeben: Sie beteiligen sich an den Start-Investitionen des Trainingszentrums mit über 700.000 Euro; im Herbst 2017 soll es den Betrieb aufnehmen.
In Wien, wo die freie Zirkusszene am stärksten vertreten ist, gibt es Signale aus dem Büro des Kulturstadtrats, dass man ebenfalls mit einer Förderung der Zirkuskunst nachziehen könnte. Und auf Bundesebene ist man zuversichtlich, dass der 2016 eingerichtete Fördertopf trotz erfolgten Wechsels im Ministerbüro auch über 2017 hinaus zur Verfügung steht. Gefördert werden „zeitlich begrenzte Projekte des Neuen Zirkus als künstlerische Bühnenform sowie innovative, zeitbezogene und experimentelle Einzelprojekte an der Schnittstelle zwischen Artistik, Schauspiel, Tanz, Musik, bildende Kunst, neuen Medien“, heißt es auf der Homepage der Kunstsektion.
Und was wünschen sich die Artisten selbst? – Großes Finale bei Cheptel Aleïkum: Eine Sprungwippe wird in die Manege gezogen. Ein Artist nach dem anderen wird von zwei Kollegen, die von einem Podest aus auf die Wippe hüpfen, in die Lüfte geschleudert und landet nach hohem Flug und einem Salto auf einer dicken Matte. Davor darf er sich vom Publikum noch etwas wünschen: eine herzliche Umarmung von einer Besucherin oder einen dicken Applaus vor dem Sprung. Dann steht der letzte Artist auf dem Brett der Wippe und sagt: „Ich bin nicht so dafür, dass jeder vor dem Sprung etwas verlangt; daher verlange ich nichts von Ihnen. Außer: Ich werde jetzt springen, und danach treffen wir uns in der Manege auf ein letztes Glas!“ – Sprach’s und wurde in die Luft geschleudert.
Lesetipp: Die aktuelle Ausgabe des „Zentralorgans für Kulturpolitik“ der IG Kultur widmet sich unter dem Titel „Heute.Zirkus.Morgen“ ganz den zeitgenössischen Zirkuskünsten in Österreich. Das Heft ist um 5 Euro bei der IG Kultur erhältlich: Tel.: 01 5037120; E-Mail: office@igkultur.at
Der Artikel erschien am 25.2.2017 in der Samstagsbeilage „extra“ der Wiener Zeitung